Kritik: The Strokes live in Berlin – „Prügelt mir die Scheiße aus dem Leib!“
Die Strokes kamen, spielten und siegten. So, wie sie es immer schon taten.
„Was ist denn bei euch los?“, ruft Julian Casablancas, hinein in die erste Reihe des Publikums. „Hast Du offene Schnürsenkel? Oder liegt da jemand tot zu Deinen Füßen?“ Er wundert sich anscheinend, weil die Leute kreischen und auf ihn zeigen. Als bräuchten sie sofort seine Hilfe. Menschen über 30, viele weit über 30, die kreischen und auf ihn zeigen. Als bräuchten sie seine Hilfe. Muss man sich mal vorstellen: Seit dem Jahr 2001, als The Strokes ihr Debüt „Is This It“ veröffentlichten und damit eine kleine Garage-Welle lostraten, hat sich für ihre Fans nicht viel verändert. Die Strokes sind noch immer die Größten.
Warum auch nicht? Neben Arcade Fire waren die Strokes die wohl bedeutendste neue Rock-Band der Nullerjahre. Die Lücke wiederum, die die Strokes durch ihre Hinwendung zu einer Art Sci-Fi-New-Wave hinterließen, ab dem „Angles“-Album von 2011, wurde von keiner anderen Rock-Band gefüllt. Zehn Jahre lang nicht – bis heute nicht. Und das kann nicht allein nur daran liegen, dass der Nachwuchs keine Lust mehr auf Gitarren hat.
Die Geschichte und Bedeutung der Strokes lässt sich am besten in großen Zeit-Etappen betrachten. Das etwas mehr als einstündige Konzert in der Columbiahalle war der erste Deutschland-Auftritt der New Yorker seit knapp zehn Jahren, und der erste in Berlin seit 14. War der Gig toll? Natürlich. Den zur Schau getragenen Abfuck des Sängers und Performers Casablancas muss man als Haltung verstehen. Eine gewisse Schlurfigkeit sowie ein – möglicherweise inszeniertes – Vertrauen in Ansagen-Allgemeinplätze („long time no see“) und Quatsch („Berlin … we stay in a great Hotel“) haben sich beim inzwischen 41-jährigen über die Jahre sicher verstärkt (Schlagzeuger Fabrizio Moretti wiederum wird von Casablancas gefragt, was sein liebstes deutsches Wort sei, er sagt: „Sitzfleisch“ – ein jedoch auffällig häufig von englischsprachigen Musikern gebrachtes Bonmot. Dann die Sache lieber handhaben wie Nikolai Fraiture, der „Hallo Berlin! Wie geht’s?“ sagt und lachen muss, weil das eine Lionel-Richie-Begrüßung ist).
Casablancas jedenfalls vergräbt den Kopf in den Händen, er legt sich auch hin, er knallt den Mikroständer hin, er macht mit beiden Händen das Victory-Zeichen, schaut dabei aber auf den Boden – vielleicht hatte er sich vor dem Auftritt auch einfach nur ein paar Biere gegönnt. Der Morten-Harket-Gesang im Chorus von „One Way Trigger“ strapaziert ihn derart, dass er kurz danach an den Bühnenrand treten und sogleich die Stimmbänder ölen muss, mitten im Lied, bevor es wieder an die Strophe geht.
Es dürfte jedem Rezensenten außerdem zwar großen Spaß bereiten, die Strokes allein ihres fantastischen Aussehens nach zu beschreiben. Die Strokes aber werden nicht eingekleidet, die hören zuerst ihre eigenen Songs und ziehen sich dann nach den Melodien und Rhythmen an, die sie am besten beherrschen. Sie sind jede Ära gleichzeitig.
Doch die Zeit, in denen die Strokes als Posterboys und reiche Söhne angegangen wurden, ist längst vorbei. Die Band, neben Casablancas noch Nick Valensi (Gitarre), Albert Hammond, Jr. (Gitarre), Nikolai Fraiture (Bass) und Fab Moretti (Drums), funktioniert live sowieso schon seit ihren Debütalbum-Konzerten von 2001 ausgezeichnet, also von Anfang an. Vor allem Valensi und „Popeye“ Hammond, Jr. sind zwei derart mitteilsame Musiker, dass man bei ihrem wandernden Spiel kaum noch unterscheiden kann, wer wann wie zwischen Lead- und Rhythmusgitarre wechselt.
Es gibt die Half-Dome-Granit-Gitarrenwand von „The Modern Age“ sowie die großen Stücke ihres dritten Albums „First Impressions of Earth“, die fast schon Art- bis Ausdrucksrock sind. Das Juwel ihrer Diskographie, eines, das Casablancas längst schon in seine Solokonzerte rübergezogen hat, ist „Ize of the World“: Ein Song, mit dem er erstmals die Nüchternheit des Lou-Reed-Garage-Rocks abgelegt und gegenüber seinen Hörern alle Gefühlskanäle bloßgelegt hat. Es sind solche Strokes-Lieder, Eruptionen und Erdplatten-Verschiebungen, die einen sprachlos zurücklassen, mehr noch, „Ize of the World“ ist jener Song, bei dem das Gefühl entsteht, hier hätten fünf Musiker gerade die Meere geteilt.
Mit Blick auf das „Is This It“-Album wiederum besteht die Ironie natürlich darin, dass ihre vier Mega-Hits auf alle Zeiten wie improvisiert aus dem Proberaum klingen sollten, aber die Band eben diese vier Mega-Hits – 1. „Last Nite“, 2. „The Modern Age“, 3. „Someday“, 4. „Hard To Explain“ – doch recht zuverlässig seit bald 20 Jahren bei so gut wie jedem Konzert bringen muss. Das hat einen Show-Charakter, dessen sich auch Julian Casablancas bewusst ist, der seinen Gitarristen vor dessen „Last Nite“-Solo dem Publikum vorstellt – „ from California … Albert Hammond, Jr.!“ – ein Wink an den noch berühmteren Vater, dem älteren Hammond, der vor vielen Jahren eine Kalifornien-Hymne über ein nicht wirklich valides Wetter-Phänomen komponiert hatte. Auch der Sohn soll zur Legende werden.
Keiner, der die zwei eher ungeliebten letzten Strokes-Alben „Angles“ und „Comedown Machine“ den ersten drei klassischen Rock-Platten vorzieht, macht sich lächerlich. Casablancas sagte jüngst zwar, dass sie die Zehnerjahre etwas verschlafen hätten. In Wirklichkeit verwirklichten sie in jener Dekade jedoch sehr freiheitliche Ideen. Neue Einflüsse wie Blondie, Cyndi Lauper, Technotronic und A-ha verknüpfte die Band zu einer Art Pop, die Retro und Future vereinte, in der Gitarren wie Laserstrahlen klingen konnten, und die in 20 Jahren vielleicht als großartige Arkaden-Musik von Vaporwave-Künstlern entdeckt und dann verfremdet wird.
Die bisher veröffentlichten bzw. als Live-Versionen im Netz zu findenden drei Songs ihres kommenden Albums „The New Abnormal“ verdeutlichen, dass die Band diese Richtung weiter einschlägt. „Bad Decisions“, an diesem Abend vorgestellt, dürfte Billy Idol glücklich machen, an dessen „Dancing With Myself“ das Lied angelehnt ist (laut Wikipedia wird Idol für den Strokes-Song gar als Co-Songwriter geführt).
Das andere neue Stück des Abends, „The Adults Are Talking“ offenbart jedoch auch, dass dies (noch) nicht die Musik ist, die ihre Fans in einem Strokes-Set hören wollen. Der Song fliegt wie ein buntes, hauchdünnes Sonnensegel durch den Saal, man möchte ein Capri-Eis dazu lecken, alles gut im Grunde, es hat aber die undankbare Aufgabe, hier zwischen den Pogo-Hymnen „New York City Cops“ und „The Modern Age“ eingeklemmt zu sein. Inmitten einer Darbietung der acht anderen „The New Abnormal“-Lieder wäre „Adults“ vielleicht noch etwas sicherer aufgehoben.
Gegen Ende des etwas mehr als einstündigen Konzerts nähert Casablancas sich dem Publikum dann endlich nicht nur an, er marschiert auch von links, dann von rechts und schließlich von vorne in das Gemenge. „Ernsthaft, ich will, dass ihr mir die Scheiße aus dem Leib prügelt!“
Macht natürlich keiner. Er befindet sich zehn Meter von der Bühne entfernt im Rund, die bemüht hinterher eilende Security könnte ihm gar nicht helfen, falls etwas passieren sollte.
Casablancas, der weiter „Last Nite“ singt, wird von den Leuten einfach nur gedrückt und gestreichelt. Der letzte neue Rockstar, 41. Es soll ihn ja noch lange geben.