Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Das frühe Leuchten von 2019
Das beste Album, die besten Reissues, die beste Frisur – sofern es sie gab. Der Jahresrückblick von Eric Pfeil.
Folge 193
Der heutige Eintrag soll mit unverhohlener Unumwundenheit dazu genutzt werden, auf musikalische Glanzlichter des Jahres zurückzublicken. Manchem mag das früh erscheinen. Doch bedenken Sie: Die offiziellen Album-Bestenlisten, die Sie demnächst in irgendwelchen Fachmagazinen für Schallplattenstreichler lesen können, mussten bereits abgegeben werden, als der Osterhase gerade mal damit begonnen hatte, die Basic Tracks für seine Erntedank-Single aufzunehmen. Wie könnte ich da zu früh sein? Nun aber ist die Sache halbwegs sicher: Alles ist veröffentlicht – oder zumindest doch angekündigt.
In meiner offiziellen Album-Top-20, die demnächst im ROLLING STONE stehen wird, fehlt so einiges: Aldous Harding, Damien Jurado, André Heller. Manches hatte ich bei Erstellung der Liste schlicht vergessen, anderes war noch nicht veröffentlicht, und in einigen Fällen saß ich wohl auch schlicht auf den Ohren.
Vor allem die Heller-Platte erwischt mich dieser Tage ganz massiv. Das Schönste: Ich muss gar nicht so tun, als nähme es mich Wunder, dass mich der oft als prätentiöser Event-Gaukler verschriene Heller mit seinem ersten Album seit über 30 Jahren so kriegt. Ich habe dieses Zeug immer gehört: diese Handvoll sogenannter „Liedermacher“, die in ihren Songs die von den meisten ihrer Kollegen beschrittenen Pfade der Redlichkeit verlassen und sich zur Knallköpfigkeit getraut haben. Maurenbrecher, Ambros und eben auch Heller. Sein Roman „Das Buch vom Süden“ war das beste Buch, das ich 2018 gelesen habe. Ich habe mir beim Lesen so gewünscht, dass er noch mal eine Platte macht. Dass er zu diesem Zeitpunkt schon längst mit dem großartigen Robert Rotifer als musical director zugange war, konnte ich ja nicht ahnen.
Klöppeln auf der Kaffeetasse
Die Plakette in der Kategorie „Live-Ereignis des Jahres“ sei hiermit an Aldous Harding verliehen. Ich war zwar gar nicht auf einem ihrer Konzerte, habe aber circa 342 Fan-Videos ihres neuen Songs „Old Peel“ gesehen, den sie derzeit als letzte Zugabe aufzuführen pflegt. Hierbei klöppelt Harding auf sehr zwingende Weise auf einer Kaffeetasse herum. Ja, man muss wohl sagen: Die Kaffeetasse dient – quasi wie ein Cowbell-Ersatz – als zentrales Instrument des Songs. Man sollte das gesehen haben! Wir alle sollten viel mehr auf Kaffeetassen herumklopfen.
Mein Song des Jahres ist Mark Kozeleks „1983 MTV Era Music Is the Soundtrack Of Outcasts Being Bullied By Jocks“ vom Album „Joey Always Smiled“, auf dem er von der Sängerin Petra Haden unterstützt wird. Kozelek singt über 19 Minuten ein Loblied auf Philadelphia und Tom Hanks, geht zum Zahnarzt, bezeichnet War On Drugs als Dire-Straits-Tribute-Band und erläutert, warum die an der Band beteiligten Herrschaften ihn mal herzlich gern haben können. „Joey Always Smiled“ ist Kozeleks zweite Veröffentlichung des Jahres. Die erste, das Sun-Kil-Moon-Werk „I Also Want to Die in New Orleans“, ist mein 2019er Lieblingsalbum. Hier berichtet der Mäandermeister über die Strapazen der Instandhaltung eines Hauses im Grünen, unerwünschte Haustiere, School Shootings, Fährnisse des Studio-Alltags, Kühe und Katzen. Zwischendurch dokumentiert er Dialoge mit Hotelangestellten, Nachbarn und Mitmusikern. Die entrückte Musik ist denkbar nah am Jazz. Der freiste Songwriter der Welt.
In der beliebten alljährlichen Kategorie „Beste Platte, die klang, als würde Ben Becker von bärtigen Elektro-Kitsch-Größen der frühen 80er produziert“ siegt in diesem Jahr mit deutlichem Abstand Nick Caves „Ghosteen“. Album des Jahres, das erst 2020 erscheint, wiederum ist die neue Platte von Die Sterne. Als Duos des Jahres seien hier in Ihrer Fach-Kolumne für die Bejubelung von Duos sowohl Shari Vari als auch die Düsseldorf Düsterboys beklatscht. Wobei Letztere ja live als Quartett aufspielen. In welch verrückten Zeiten leben wir nur, wo nun schon die Duos zu viert sind?
Sie wollen wissen, welches die drei besten Reissues des Jahres waren? Nehmen Sie dies:
Platz 1: Mazouni – „Un Dandy en Exil 1969 – 83“: Quietschbunte Wundermusik zwischen algerischer Tradition und Yéyé-Pop; wurde ausgiebig im Pop-Tagebuch Folge 185 bejubelt.
Platz 2: The 39 Clocks – „Next Dimension Transfer“: Die Großtaten des besten deutschen Psycho-Beat-Duos aller Zeiten.
Und zuletzt: Max Goldt – „Draußen die herrliche Sonne“: Hier finden sich 131 Stücke aus den Jahren 1981 bis 2000, darunter Foyer des Arts-Perlen wie „Ein Haus aus den Knochen von Cary Grant“ und „Kaiserschnitt“. Kommt Mitte Dezember.
Die beiden besten Pop-Alben des Jahrgangs stammen von Billie Eilish und Lana Del Rey, während sich in der Kategorie „Erfolgreich ignorierte Event-Mumpitz-Musik“ die Trophäe von Rammstein, den Toten Hosen und Coldplay geteilt werden muss. Als beste Platte mit einem Akkordeon als Lead-Instrument sei das Solo-Debüt von Maxi Pongratz empfohlen. Meine ganz persönliche Wiederentdeckung des Jahres ist „Between Shootings“ von Kastrierte Philosophen: als wäre eine dramabegabte Nico-Adeptin bei The Dream Syndicate eingestiegen. Auch das Nachfolgealbum „Insomnia“ ist sehr gut.
„Frisur des Jahres“ muss leider ausfallen, ich habe in diesem Jahr weit und breit keine erwähnenswerte Frisur gesehen. Kein gutes Zeichen. Bester Film? Keine Ahnung. Wahrscheinlich wie jedes Jahr „El Dorado“.
Früher wurde ich zum Ende des Jahres des Öfteren in Radiosendungen eingeladen, um dort zu verkünden, was denn im kommenden Jahr der heiße Käse wird. Gut, dass diese Einladungen inzwischen ausbleiben, ich wüsste gar nicht, was ich dort erzählen sollte. In Radiosendungen, die der Belobhudelung André Hellers gewidmet sind oder die das Thema „Warum man mindestens einmal im Monat „El Dorado“ gucken sollte“ zum Gegenstand haben, kann man mich hingegen beruhigt einladen. Wenn es die Stimmung hergibt, würde ich dort sogar etwas auf der Kaffeetasse klöppeln.