ROLLING-STONE-Reportage

DDR-Popkultur – Revolution in Grenzen

Die Popkultur des Ostens war viel reichhaltiger, als uns hartnäckige Klischees glauben machen. Eine Zeitreise mit Bettina Wegner, Günther Fischer, Uschi Brüning, Pankow und Silly.

Fotos von Friederike Göckeler

Günter Schabowskis größte Lebensleistung basiert auf einem Fehler. Als er am 9. November 1989 kurz vor 19 Uhr die Worte „sofort, unverzüglich“ stammelt, ist ein ganzes Land aus Versehen frei. Schabowski, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung, hatte in seinen Unterlagen gewühlt und auf Nachfrage eines Reporters die Reisefreiheit von DDR-Bürgern genehmigt. Eigentlich sollte die Regelung erst tags darauf veröffentlicht werden. Eine halbe Stunde nach dem historischen Irrtum vermelden die ersten Nachrichtenagenturen den Fall der Berliner Mauer. Die Aufnahmen dieser Pressekonferenz gehören neben den Leipziger Montagsdemonstrationen, Hans-Dietrich Genschers Balkon-Rede in Prag und den Massen am Grenzübergang Bornholmer Straße zu jenen Ereignissen, die jährlich aus den Redaktionsarchiven geholt werden, um ihr mediales Erbauungswerk an den Pflichtfeierlichkeiten zur Friedlichen Revolution zu verrichten. Es sind Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Sie erfüllen aber noch einen anderen Zweck: Sie ertränken Frust und Unbehagen im Tränenmeer der Nostalgie. Doch wie immer, wenn die schmutzige Wäsche der Geschichte zu heiß gewaschen wird – irgendwann tauchen Stimmen auf, die sich beschweren, weil sie nicht reinpassen in die nach Persil duftende Identität. „Eine Staatsbürgerschaft wechselt man doch nicht wie ein T-Shirt“, sagt Bettina Wegner im Jahr 2019.

Startschuss in die schöne neue Welt

30 Jahre nach dem Mauerfall ist die Zeit reif, um Lebenswege wie ihren zu würdigen und die Popkultur des anderen Deutschlands neu zu entdecken. Gegen das Vergessen und die Geringschätzung. Die Zeit ist reif, um Leute zu Wort kommen zu lassen, die sich jenseits der üblichen Verdächtigen – Puhdys, Karat, City, Biermann – aus der Umklammerung der „Fürsorgediktatur“ gelöst haben. Um kreative Freiräume im fest ummauerten Äußeren zu schaffen.Viele von ihnen verspüren am 9. November 1989 keine Euphorie. Sie sitzen ungläubig vor dem Fernseher. Andere wissen gleich, was die Stunde geschlagen hat. Einer von ihnen ist André Herzberg. „Du musst, ob du willst oder nicht, in dieses andere Leben rein – diese Erkenntnis hat mir Angst gemacht“, erklärt der Sänger der Band Pankow. Vielleicht bringt nichts die Atmosphäre zwischen Freudentaumel und Ohnmacht so genau auf den Punkt wie eine Anekdote, von der Herzberg nicht mehr weiß, ob sie wirklich passiert ist oder ob er sie nur geträumt hat: Er steht vor einem Fernsehgeschäft. Draußen staunende Gesichter, drinnen die Live-Übertragung von Schabowskis Pressekonferenz. Draußen hört niemand, was drinnen abläuft: das bizarre Ende eines Polit-Thrillers. Draußen erstarren die Leute, drinnen fällt der Startschuss – in die schöne neue Welt.Die Sängerin Tamara Danz nimmt die Herausforderung an. „Sie hat sich sehr dafür eingesetzt, dass das Land nicht verscherbelt wird“, berichtet Silly-Gitarrist Uwe Hassbecker. Danz engagiert sich für Reformen, nicht für die Abschaffung der DDR. Was selten erwähnt wird: Versuche, einen besseren, menschlicheren Sozialismus zu gestalten, hatte es in der DDR auch schon viel früher gegeben. Und damit beginnt die kulturelle Odyssee im Arbeiter-und-Bauern-Staat.

Bettina Wegner, 2019

Gegen 10 Uhr morgens am 3. Dezember 1965 schießt sich Erich Apel in seinem Büro eine Kugel in den Kopf. So lautet die offizielle Version. Apel ist Vorsitzender der Staatlichen Plankommission und bis zu seinem Tod der treibende Motor eines ökonomischen Experiments zum Aufbau einer kontrollierten Marktwirtschaft. Grünes Licht bekommt er von ganz oben. Walter Ulbricht, der durch die stalinistische Kaderschmiede gestählte Staatschef (meistzitierter Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“), agiert nämlich im Innern als durchaus reformwilliger Realpolitiker. Anfang der Sechziger erkennt er, dass sein Land, wenn es denn überleben will, Wettbewerb zulassen muss. Warum ist das relevant? Das Politische und das Kulturelle sind in der DDR untrennbar verbunden. Beide Sphären führen eine Zwangsehe, aus der mal geniale, mal missratene Kinder hervorgehen. „Genau deshalb greift der vor allem unter Künstlern und Intellektuellen geführte Streit um den richtigen Entwicklungsweg des Sozialismus so tief ein ins Selbstverständnis der DDR-Gesellschaft“, schreibt Gunnar Decker in seiner Analyse „1965. Der kurze Sommer der DDR“. In jenem Schicksalsjahr erfasst eine neue Streitlust die geistige Avantgarde, beflügelt Schriftsteller, Regisseure und Musiker. Das Experiment „Liberalisierung“ scheitert, kaum dass es begonnen hat. Die Zyniker und Apparatschiks übernehmen das politische Ruder – oder vielmehr: sie ducken sich vor dem eisigen Wind, der seit dem Wechsel von Chruschtschow zu Breschnew aus Moskau weht. Auch Ulbricht knickt ein. Nach Apels mysteriösem Ableben und dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei (SED) rollt eine Verbotswelle an, die kein Erbarmen kennt. Filme werden aus den Kinos verbannt. Liedermacher wie Wolf Biermann dürfen nicht mehr auftreten. Das Ministerium für Staatssicherheit (kurz Stasi) verfeinert seine perfiden Überwachungstaktiken.

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In diesem Klima wird Bettina Wegner erwachsen. Eigentlich hätte in ihrem Fall alles seinen sozialistischen Gang gehen müssen. Ihre Eltern sind überzeugte Kommunisten. Der Vater arbeitet als Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Freie Welt“, die Mutter ist Sekretärin in der Liga für Völkerfreundschaft. Doch Mitte der Sechziger brechen für Wegner stürmische Zeiten an. Sie beginnt eine Ausbildung zur Bibliotheksfacharbeiterin und ein Schauspielstudium. Sie ist Mitbegründerin eines Hootenanny-Klubs für Kreative, die der Funktionärselite genüsslich eine lange Nase drehen. Sie verliebt sich in Thomas Brasch, der später zum Enfant terrible der Theater- und Lyrikerszene avanciert, und bekommt ein Kind von ihm. 1968 verteilt sie Flugblätter gegen die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings. Sie wird exmatrikuliert und wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verurteilt. Eine genaue Haftzeit gibt es nicht. Die Stasi foltert gern psychologisch. Nach einer Woche, die sich anfühlt wie eine Ewigkeit, kommt sie frei.

Wegner ist 20, da hat ihr die Diktatur des Proletariats bereits Wunden zugefügt, die nicht mehr heilen. Sie sucht nach Halt unter Gleichgesinnten, findet ihn in dem Schriftsteller Klaus Schlesinger. 1970 heiraten die beiden. Sie kämpfen mit ihren Mitteln gegen die Gleichschaltung, noch immer beseelt von der Aufbruchstimmung um 1968. Wie die gelebt wurde, skizziert Schlesinger später in „Von der Schwierigkeit, Westler zu werden“: „Überall Diskussionen, in den Freundeskreisen, den lockeren Zirkeln, den Jugendklubs. Wo man hinsah: Bewegung. Hüben und drüben die zarte Hoffnung, dass aus der deutschen Alternative eine andere, lebbare wachsen könnte.“

Es ist der 22. März 2019. Bettina Wegner sitzt in ihrem Wohnzimmer in Berlin-Frohnau, plaudert unbekümmert, qualmt in einer Tour, lacht wie ein junges Mädchen. Seit 1983 lebt sie im Westteil der Stadt. Neben der Tür zum Garten hängt ein Foto ihrer geliebten Eltern. Geerbt hat sie von ihnen einen untrüglichen Gerechtigkeitssinn. Ihr Humor ist dagegen einzigartig. Bettina-Wegner-Humor. Auf die Frage, welches Erinnerungsstück mit auf das Foto für den ROLLING STONE könnte – vielleicht eine Packung Zigaretten, die sie sich mit Wolf Biermann geteilt hat –, antwortet sie: „Wir können meine Gitarre mitnehmen oder eine leere Schachtel Casino, die ich allerdings alleine aufgeraucht habe, denn Biermann war, solange ich ihn kenne, Nichtraucher.“ Wegners Haus wirkt angenehm schlicht, ein Schönheitsmakel im Spalier gepflegten Wohlstands. Kurz nach ihrer Ankunft in Frohnau stieß sie in der Nähe auf ein Weltkriegsdenkmal. Der von einem Stahlhelm gekrönte Steinklotz steht noch immer. Damals befestigte sie einen Zettel daran, kritzelte darauf einen Satz von Kurt Tucholsky: „Soldaten sind Mörder.“

„„Eine Staatsbürgerschaft wechselt man doch nicht wie ein T-Shirt““

Ihre Widerborstigkeit prädestiniert sie früh zur Songschreiberin und Sängerin in der Tradition amerikanischer Folk-Ikonen. Die musikalische Grundausstattung erhält sie 1971 im Studio für Unterhaltungskunst, wo auch Nina Hagen ihr Diplom als „Staatlich geprüfte Schlagersängerin“ abgelegt hat. Mit Schlager hat Wegner zwar wenig am Hut, doch die Vorteile der Ausbildung nutzt sie gern. Nur in die Partei will sie nicht. „Nach meinem Gefängnisaufenthalt war da für mich ein Haken dahinter“, sagt die Frau, die mit ihrer Entschlossenheit so manch ausgekochten Stasi-Offizier zur Verzweiflung trieb. Sie zahlt die Rechnung für ihre Haltung, bekommt Repressalien zu spüren. Konzerte können nur in semi-offiziellem Rahmen und unter falschem Namen stattfinden. Alben darf sie nicht aufnehmen. Amiga, das einzige Label der DDR, steht unter staatlicher Aufsicht. „Wer etwas auf Rille veröffentlichen wollte, musste dort Klinken putzen“, erklärt Jörg Stempel, der von 1980 bis 1988 die Programmgestaltung von Amiga leitete.Wegner putzt lieber die Klinken von Kirchen und Studenten-Klubs. Die Demütigungen münzt sie um in erhebende Klagegesänge. Sie schreibt gegen die Verharmlosung der Naziverbrechen, gegen Militarismus und Faschismus – und gegen den Missbrauch marxistischer Ideale im Dienste der Diktatur. Sie empört sich über Ignoranten und Machos. Und sie mahnt als zweifache Mutter vor der Grausamkeit an den Jüngsten der Gesellschaft. Joan Baez covert ihren berühmtesten Song, „Kinder“. Ihr großes Thema aber ist der Identitätsverlust. Stücke wie „Von Deutschland nach Deutschland“, „Heimweh nach Heimat“ und „Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen“ sind die Tränen eines Landes, das niemand mehr betritt. 1976 ist Wegner Mitunterzeichnerin eines offenen Briefs gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Was hätte sie denn noch zu verlieren gehabt? „Bei mir war ja schon alles im Klo“, meint sie trocken. Sie verliert noch einiges, wird am Ende regelrecht rausgeekelt aus der DDR. Die Stasi hatte gehofft, sie würde von einer ihrer Westreisen nicht zurückkehren. Nun nötigen sie die Genossen zum Gehen. Sie wehrt sich. Als ihr eine weitere Haftzeit droht, geht sie rüber. Im Westen nimmt sie ihre Lieder auf, singt sich Trauer und Frust von der Seele. Doch versteht man sie auch? Als die Wiedervereinigung kommt, verliert sie zum zweiten Mal ihre Heimat. Die doppelte Entwurzelung ist das Trauma vieler DDR-Exilanten. Wegners Lieder stimmen bis heute.

„„Ich hatte nie Skrupel, etwas zu machen, von dem ich keine Ahnung habe““

Im Osten Brandenburgs blühen die Landschaften, aber sonst wenig. Eine halbe Stunde auf sonnendurchfluteten Alleen ohne Gegenverkehr. „Zollbrücke“ steht auf dem Richtungsweiser. Noch ein paar Hundert Meter bis zur Grenze, wo die Oder Deutschland und Polen trennt. Hier im strukturschwachen Nirgendwo liegt das Theater am Rand. Es sieht aus wie ein moosbewachsenes Raumschi , das in eine Scheune gekracht ist. Der Akkordeonist Tobias Morgenstern hat dieses Idyll 1998 gemeinsam mit dem Schauspieler Thomas Rühmann geschaffen. Die Besten des DDR-Jazz kommen regelmäßig in den kleinen Ort, in den sich sonst nur Radwandertouristen und Störche verirren. Anfang August füllen Günther Fischer und seine Band den Schuppen für zwei Konzerte. Am ersten Abend kokettiert er: „Ich hatte nie Skrupel, etwas zu machen, von dem ich keine Ahnung habe.“ Er stellt seine Musiker vor. Am Schlagzeug: Wolfgang „Zicke“ Schneider, seit 1964 an seiner Seite. Sie spielen das Stück „Für Achim“. Das hat Fischer seinem verstorbenen Trompeter Hans-Joachim Graswurm gewidmet. Die Jazz-Elegie transzendiert an diesem Abend nicht nur einen schmerzlichen Verlust – sie scheint den Knoten zu lösen, der lange etwas verschnürt hat. Eine ostdeutsche Seele womöglich.

Günther Fischer, 2019

Tags darauf versucht Fischer einen Witz: „Von der Bühne schauen wir oft auf einen grauen Teppich.“ Das Publikum dürfte durchschnittlich in seinem Alter sein. Mitte 70. Die Wehmut unter dem grauen Teppich lässt sich nur erahnen. Applaus brandet auf, wenn Fischer einen Song ankündigt oder eine Melodie anstimmt. Ein Hauch von früher. Er sagt: „Niemand kann die Stimme von Manfred Krug ersetzen, aber ich bin nun mal das Original.“ Das Original ist Saxofonist, Komponist und Arrangeur. Günther Fischer gehört zu jener Gattung von Künstlern, die sich mit dem SED-System arrangieren, die nach Wegen suchen, sich zu verwirklichen, ohne dem Staatsapparat in die Quere zu kommen. Fischer macht in der DDR eine erstaunliche Karriere. Ab Mitte der Sechziger heißt seine bevorzugte Ausdrucksform Jazz. Es ist ein Universum, zu dem Funktionäre keinen Zugang finden. Sie können es beobachten und verunglimpfen. Walter Ulbricht, bei rassistischen Äußerungen nicht zimperlich, bezeichnet Jazz als „Affenkultur des Imperialismus“. Verbieten kann er ihn nicht, dafür mangelt es seinen sozialistischen Kulturwächtern am Gespür für Zwischentöne. Und auf die kommt es in einem oft nonverbalen Genre an. Fischer studiert an der Hanns-Eisler-Musikhochschule in Berlin, seiner wahren Leidenschaft frönt er vorerst im Geheimen. Wie sein amerikanisches Vorbild wird der DDR-Jazz in Kellerräumen und abgelegenen Kaschemmen geboren. „Wir wollten avantgardistische Dinge tun. Auf dem Gebiet war Jazz die Nummer eins“, erklärt Fischer. „Wenn die gewusst hätten, dass ich bei Lenz spiele, wäre ich geflogen.“ Die Band-Formationen des Trompeters Klaus Lenz sind eine Art Durchlauferhitzer für unzählige Talente. Dass sich Jazz in der DDR zur progressiven Kunstform mausert, ist Leuten wie ihm zu verdanken. Fischer fühlt sich bei Lenz jedoch schnell unterfordert. Er gründet sein eigenes Quintett. Ende der Sechziger lernt er Manfred Krug kennen. „Ich hatte nie vor, Lieder zu schreiben“, gesteht er. Für Krug ändert er seine Meinung. Es ist der Beginn einer kreativen Partnerschaft, die vier Platten abwirft, die heute zu Recht Klassikerstatus genießen. Inspiriert von Chicago, Marvin Gaye und Blood, Sweat & Tears schüttelt Fischer ein Meisterstück nach dem anderen aus dem Ärmel, bedient sich bei Jazz, Pop, Soul, Rock, Blues und Bossa Nova. Krug verleiht ihnen seinen raubeinigen Charme. Er barmt, röhrt und raspelt durch die Arrangements; es klingt, als würden Adriano Celentano und Ray Charles Gedichte von Wilhelm Busch vertonen. „Texte: Clemens Kerber“, informieren die Rückseiten der Platten. Hinter dem Pseudonym steckt Krug selbst. Seine Alltagspoesie schmiert Farbe ins trübe Antlitz des sozialistischen Realismus. Krug, der Mann aus der Arbeiterklasse, holt den Arbeiter von seinem Heldensockel und tanzt mit ihm eine Runde Swing. Ironie der Geschichte: Fischer und Krug hatten ursprünglich englische Texte im Sinn. Die Entscheidung dagegen fällt auf höherer Ebene. Im Nachhinein ist Fischer froh über das Verbot. „Auf Englisch hätten wir irgendeine banale Scheiße fabriziert, denn es konnte ja keiner die Sprache.“ Der Erfolg gibt allen Beteiligten recht.

https://www.youtube.com/watch?v=2fKOsHLSmU4&t=768s

Superstars sind in der DDR – wie so vieles – Mangelware. Krug ist einer. Amiga-Nachlassverwalter Jörg Stempel erklärt warum: „Viele Schauspieler benutzen ihre Popularität, um auch zu singen. Aber von denen kann ihm keiner auch nur im Mindesten das Wasser reichen.“ Fischer bestätigt: „Er war ein Talent, wie es höchstens alle 50 Jahre vorkommt.“ Krug kostet seinen Ruhm aus, sammelt Oldtimer und Antiquitäten, bewohnt mit seiner Familie eine prächtige Villa in Berlin-Pankow. Auch Fischer genießt Privilegien, unter anderem Konzertreisen ins westliche Ausland. Inzwischen ist in den Regierungsetagen angekommen, dass sich mit Jazz das Ansehen der DDR aufbessern lässt. Fischer zieht einen denkwürdigen Vergleich: „Das hat man behandelt wie den Leistungssport.“ In seiner Disziplin gewinnt er so regelmäßig wie sowjetische Athleten bei den Olympischen Spielen. Er wird der gefragteste Komponist des Landes. Die Sängerinnen Uschi Brüning, Veronika Fischer und Regine Dobberschütz interpretieren seine Lieder. Fischer schreibt die Musik für unzählige Filme. Er hegt Verbindungen zum Kulturministerium. Das lässt ihn gewähren, genehmigt Arbeiten für das Zürcher Schauspielhaus und David Hemmings’ „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ mit David Bowie in der Hauptrolle. Erst in den Neunzigern sinkt sein Stern. Probleme, an Aufträge zu kommen, hat Fischer zwar keine. Doch etwas lastet schwer auf ihm. 1993 beschuldigt ihn Manfred Krug in einem „Spiegel“-Artikel, im Auftrag der Stasi spioniert zu haben. Fischer erzwingt eine Gegendarstellung. „Ich habe niemals in meinem Leben jemanden bespitzelt“, beteuert er noch heute. Im undifferenzierten Nachwende-Klima nützt das wenig. Da reicht schon der bloße Verdacht, um ein Leben zu ruinieren. Fischer kommt mit einem blauen Auge und einem dunklen Fleck in der Biografie davon. Bedenken an seiner moderaten Gegenwehr wischt er mit einem Satz aus der Trickkiste für clevere Geschäftsmänner vom Tisch. „Ich hätte doch nie unsere Legende kaputt gemacht!“

Jazz ist die Musik des Klassenfeindes

Uschi Brüning

Zur Legende hat es Uschi Brüning nicht gebracht. Vielleicht weil sie Manfred Krug zu sehr verehrt hat, um sich aus seinem Schatten zu lösen. Vielleicht weil die Kapellen, in denen sie in ihrer Geburtsstadt Leipzig und später in Berlin sang, vor allem eins waren: Männersache. Uschi Brüning ist die ungekrönte Königin des deutschen Soul-Pop und Jazz. Sagen kann man ihr das nicht. Es würde ihr die Schamesröte ins Gesicht treiben. „Wir müssen alle noch lernen, uns im Applaus zu baden“, bemerkt sie bei einem Konzert in der Berliner Bar jeder Vernunft. Ist das der Grund, weshalb ihre Bekanntheit in den alten Bundesländern gegen null tendiert? Ja, ist es der Grund, warum Generationen von Künstlern noch immer nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen? Können sich die Ostler einfach nicht behaupten? „Sicher, wir schielten nach dem Westen … träumten von der Welt jenseits der Mauer, wollten auch dort einmal zeigen, was wir draufhatten … Alles, was von ‚drüben‘ kam, übte einen Reiz auf uns aus, die Menschen hatten ein gewandteres Auftreten, waren selbstbewusster, alles Dinge, die mich einschüchterten. Wenn ich es recht bedenke, waren wir doch sehr unselbstständig, stark im Dagegensein, aber unfähig, etwas zu verändern“, steht in Brünings kürzlich erschienener Autobiografie „So wie ich“. Ihre Schüchternheit hat sich im Laufe der Zeit in Tollpatschigkeit verwandelt. Kein Uschi-Brüning-Konzert ohne einen umgerempelten Notenständer oder ein versehentlich entstöpseltes Mikro. Im Mai 2019 sitzen wir im Ratskeller Köpenick – noch so ein Traditionsort des DDR-Jazz. Hier kann sie außer einer Tasse Kaffee nichts umwerfen. Aus den Restaurant-Boxen tönt Rammstein. Und draußen feiern die Fans des 1. FC Union Berlin den Aufstieg ihrer Mannschaft in die Fußball- Bundesliga mit Rauchgranaten. Eigentlich wisse sie gar nicht, was es noch zu erzählen gäbe. Es stehe ja schon alles in dem Buch. Brünings Terminkalender quillt über vor Konzerten. Nach unserem Gespräch fährt sie wie fast jeden Abend zu ihrem Mann, dem Saxofonisten Ernst-Ludwig Petrowsky. Er liegt in einem Altenheim. Luten, wie er in Musiker-kreisen genannt wird, habe sie befreit. Als Sängerin und als Mensch. Er weihte sie ein in die Möglichkeiten des Free Jazz.

„„Wir müssen alle noch lernen, uns im Applaus zu baden““

Wo jeder individualistische Ausdruck als Dekadenz des Klassenfeinds verdammt wird, sind Improvisation und Transzendenz der Schlüssel zur inneren Revolution. Ihre Jazz-Initiation erlebt Brüning, lange bevor sie ihren Mann kennenlernt: bei einem Gastspiel von Louis Armstrong, der 1965 durch die DDR tourt. So schnell wie bei dieser Offenbarung schlägt ihr Puls nicht mehr bis zu jenem Tag, an dem Klaus Lenz – besagter Trompeter und Bandleader – bei ihr anruft und sie zu einem Vorsingen einlädt. Lenz lässt jede neue Sängerin das Beatles-Stück „Yesterday“ vortragen. Brüning besteht den Test. Nach ihrem Umzug aus Leipzig taucht sie tiefer ein in die blühende Ost-Berliner Musikszene, die sich in Clubs wie der Großen Melodie im alten Friedrichstadtpalast trifft. Sie erwirbt sich den Ruf einer exzellenten Live-Sängerin. Der Schriftsteller Ulrich Plenzdorf geht zu ihren Auftritten und widmet ihr in „Die neuen Leiden des jungen W.“ eine Lobeshymne. Lenz ermöglicht ihr Konzerte mit Manfred Krug. Brüning hat Engagements in verschiedenen Combos. Nur ein eigenes Album fehlt ihr. Irgendwann wechselt sie zu Günther Fischer, der ihr geniale Soul- Pop-Stücke wie „Hochzeitsnacht“ auf den Leib schneidert. Es sind die frühen 70er-Jahre, die DDR-Popkultur floriert. Heute sagt Uschi Brüning: „Ich bin auch erstaunt, was wir alles hatten. Es war ja jeder in seiner Nische. Da hat man manches auch nicht mitbekommen.“ Zum Beispiel „Nach Süden“ der Gruppe Lift, das zu ihrem aktuellen Programm „Herzenslieder“ gehört. Der Song verpackt seinen Traum von Freiheit in Metaphern, die für DDR-Bürger nicht schwer zu entschlüsseln sind:

Nach Süden, nach Süden wollte ich fliegen,

Das war mein allerschönster Traum.

Hinter den Hügeln wuchsen mir Flügel,

Um vor dem Winter abzuhaun.

Die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu hören, wächst mit der Not. Zudem gelingt es ostdeutschen Musikern auf verblüffende Weise, ihre Inspirationsquellen aus dem westlichen Ausland wie trojanische Pferde durch den Eisernen Vorhang zu schleusen. Es gibt Jazz und Folk. Es gibt eine Blues-Szene um die Meistergitarristen Hansi Biebl, Jürgen Kerth und Stefan Diestelmann. Es gibt wundervolle Platten, etwa das Debütalbum von Veronika Fischer & Band. Und es gibt zahlreiche Rock-Künstler. „Udo Lindenberg wird angedichtet, er habe die deutschsprachige Rockmusik erfunden. In der Wahrnehmung im Westen sicher, weil sich keiner für Musik aus dem Osten interessiert hat! Dabei hat Udo zu Beginn seiner Karriere auch erst englisch gesungen, da hatten wir schon Bands wie Team 4, die Horst Krüger Band, Lakomy, Electra und die Puhdys“, stellt Jörg Stempel klar. Auch Pop passt in den Siebzigern längst nicht mehr in die Kinderschuhe hüftsteifer Sechziger-Formationen wie der Theo Schumann Combo. Die Songschreiber Franz Bartzsch und Holger Biege entfalten eine mitreißende, melodievernarrte Popsprache. Wem bei Bartzschs „Blues für ein Mädchen“ oder Bieges „Sagte mal ein Dichter“ keine Freudentränen kommen, dem wird auch bei „Pet Sounds“ und „Talking Book“ nicht warm ums Herz. Manche solcher Perlen fristen heute ihr Dasein auf Samplern – die Original-Alben sind längst vergriffen und wurden nie oder nur selten neu aufgelegt.

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Die 70er-Jahre sind aber auch die Zeit der inneren Emigration. Repression und Überwachung durchdringen den Alltag. Die Mehrheit der Bevölkerung zieht sich zurück. Überall schießen Plattenbauten und Datschen aus dem Boden. Erich Honecker regiert die DDR nicht, er verwaltet sie wie eine Schrebergartenkolonie. Und auf den Fluren des Kulturministeriums spukt ein mausgrauer Konsens. Die Ausbürgerung von Wolf Biermann und die Ausreise Manfred Krugs lösen Ende der Siebziger einen regelrechten Künstler-Exodus aus. Die meisten gehen in der BRD unter. Wer bleibt, muss öffentlich Buße tun oder mit Verhaftung rechnen. Auf jede halbwegs geglückte Musikerlaufbahn kommen in der DDR zwei tragische. Mit einigen kann man nicht mehr sprechen. Sie leben nicht mehr. Ein Name, der immer wieder auftaucht, wenn es um Menschen geht, denen die Stasi besonders übel mitgespielt hat, ist der Texter und Liedermacher Gerulf Pannach. Er schrieb unter anderem für die Klaus Renft Combo, die mit ihrer Mischung aus Garage-Rock und Protestlied regelmäßig an den Horizont der Herren Kulturaufseher stieß. Auch Pannach unterzeichnete im November 1976 die Protesterklärung gegen die Biermann-Ausbürgerung. Nach neunmonatiger Haftstrafe wurde er nach Westberlin abgeschoben. Dort brachte er seine Verzweiflung zu Papier:

Ob im Osten oder Westen,

Wo man ist, ist’s nie am besten.

Suche, Seele, suche.

Fluche, Seele, fluche.

Pannach starb 1998 an Nierenkrebs. Spekulationen über die Ursachen seines Todes konnten nie geklärt werden. Demnach hatte ihn das MfS einer hohen Dosis Röntgenstrahlen ausgesetzt. Leute wie Gerulf Pannach und Klaus Renft haben Türen aufgestoßen, durch die jüngere Musiker wie André Herzberg gehen konnten. Mitte Juni sitzt Herzberg in einem Berliner Café und bestellt sich einen Salat mit Ziegenkäse. Wir müssen noch warten. Auf Jürgen Ehle. Der wohnt in der Märkischen Schweiz, und sein Zug hat Verspätung. Herzberg ist Sänger und Schriftsteller, Ehle ist Gitarrist. Wir befinden uns in dem Stadtviertel, nach dem sie 1981 ihre Band benannt haben: Pankow. Herzbergs Mutter war zu DDR-Zeiten Staatsanwältin. Sie hat Musiker verknackt, die Instrumente geschmuggelt haben. Sein Vater arbeitete als Journalist, was eine gewisse Regime-Treue voraussetzte. „Die Auseinandersetzung mit meinen Eltern hat mir die Kraft für meine Musik gegeben“, erklärt der 63-Jährige und wischt sich den Mund ab. „Als ich bei Pankow angefangen habe, hat sich das angefühlt wie Revolution.“ Die Revolution fand auf der Bühne statt. „Live konnte man einiges machen, was auf Platte nicht möglich gewesen wäre.“ Zum Beispiel in ihrem Programm „Paule Panke“. Als Album durfte dieser Bastard aus Theatersatire und Rock-Musical lange Zeit nicht erscheinen.

Instrumente als Schmuggelware

Musiker in der DDR zu sein, das hieß vor allem, mit derartigen Absurditäten zu leben. Vieles davon ist heute schwer vorstellbar. Instrumente amerikanischer oder britischer Hersteller mussten beispielsweise heimlich über die Grenze gebracht werden. Die Übergabe erfolgte auf einsamen Parkplätzen und Landstraßen. Für den Kauf wurden Freunde und Familien angepumpt. Das Nachspielen von Rock- und Pop-Hits erforderte stunden- und tagelanges Radiohören verbotener Westsender. Skurril war auch ein Berufsausweis, im Volksmund „Pappe“ genannt, für den Musiker eine Prüfung ablegen mussten, wenn sie ohne Musikstudium eine Bühne betreten wollten. Man stelle sich die Ausdauer und Leidenschaft vor, die es brauchte, um sich in der DDR musikalisch zu entwickeln.

„„Die Stasi hat nicht mehr so schnell draufgehauen““

Pankow haben in den Achtzigern nicht nur Ausdauer und Leidenschaft. Sie haben den Mumm, einen Rockzirkus wie „Paule Panke“ auf die Beine zu stellen. „Renft sind mit solchen Inhalten ein paar Jahre zuvor noch gegen die Mauer der Zensur gefahren“, sagt Ehle. Was hatte sich seitdem geändert? „Man hat nicht mehr so schnell draufgehauen.“ Denn in den Gremien und Ministerien sitzen inzwischen ein paar Vernunftbegabte. Das bietet neue Spielräume. Bands wie Pankow, Silly und Rockhaus vollführen den Drahtseilakt zwischen dem, was erlaubt ist, und dem, was als subversiv eingestuft wird, mit Experimentierfreude und Respektlosigkeit. 1983 tritt Herzberg beim Festival „Rock für den Frieden“ im Palast der Republik in Wehr- machtsuniform auf und zieht vor Vertretern von SED und FDJ Parallelen zwischen Nazi- Deutschland und der DDR. Bei einem anderen Gig äußert er sich sogar kritisch über die Stasi. Herzberg droht daraufhin Berufsverbot. Ehle beschwatzt die Genossen mit Engelszungen. Am Ende drücken die Beamten noch mal beide Behörden-Augen zu. Aber es dauert Jahre, bis Pankow endlich Alben nach eigenem Gusto aufnehmen können. „Keine Stars“ (1986) und „Aufruhr in den Augen“ (1988) sind cool, arrogant, rotzig. Die Band macht aus ihrer Verehrung für Ian Dury, Rio Reiser und den Rolling Stones keinen Hehl. Und wäre da nicht schon die Angst vor Gorbatschows Glasnost und Perestroika, hätte sich die SED wohl nicht so sehr gefürchtet vor einem Song, der wie zum Hohn auch noch „Langeweile“ heißt und Zeilen wie diese enthält:

Dasselbe Land zu lange gesehn,

Dieselbe Sprache zu lange gehört.

Zu lange gewartet, zu lange gehofft,

Zu lange die alten Männer verehrt.

Die alten Männer haben schon an Macht verloren und können die Verbreitung des Stücks nicht mehr aufhalten. In den Neunzigern ergeht es Pankow wie vielen Ost-Bands. Sie kämpfen um ihr künstlerisches Überleben. So wie die Treuhand die Betriebe der DDR abwickelt, wird die ostdeutsche Musikszene abgewickelt, getreu dem neoliberalen Mantra „Der Markt regelt das schon“. Der Markt regelt es so, dass kaum Konkurrenz für den Westen übrig bleibt. „Unmittelbar nach der Wende haben unsere Künstler Fenster mit Schallschutz und Versicherungen verkauft, weil der klassische Musikfan aus dem Osten alles andere kennenlernen und kaufen wollte, nur nicht die eigenen Helden“, erklärt Jörg Stempel, der 1990 zu BMG Ariola wechselt und den Vertrieb des Labels im Osten aufbaut. Seine Pläne, neue Alben mit bekannten DDR-Musikern zu produzieren, scheitern. Der Markt fragt ja nicht danach. Wie hart das Business „drüben“ ist, erfährt Jürgen Ehle: „Ich habe eine Zeit lang nebenbei in einer Westberliner Band gespielt, wo Mitmusiker als Parkplatzwächter, Barkeeper und Bratwurstverkäufer gejobbt haben, obwohl die Band bei einer großen Plattenfirma unter Vertrag war.“ Die Umstellungen nach der deutschen Wiedervereinigung sind so zahlreich wie brutal. Für viele geht es erst mal darum, finanziell mit dem Arsch an die Wand zu kommen. Und dann ist da noch das dunkle Stasi-Kapitel. Schnell wird das mediale Bild einer Nation voller Kollaborateure heraufbeschworen. Heute muss man konstatieren: Wer die Musiker der DDR pauschal als Stasi-Handlanger kriminalisiert, redet am Ende genau den Funktionären das Wort, die gern jeden schöpferischen Alleingang im Keim erstickt hätten.

Silly

Brutale Nachwendezeit

Als Herzberg in seiner Stasi-Akte entdeckt, dass sein eigener Gitarrist als Inoffizieller Mitarbeiter tätig war, rennt er nicht zum „Spiegel“. Er konfrontiert Jürgen Ehle. Der gesteht sofort alles. Angeworben wurde er als junger Kerl direkt nach seinem Wehrdienst. Wie sich herausstellt, hat Ehle seine Band nicht ausspioniert, sondern mitunter vor größerem Unheil bewahrt. Einmal habe die Stasi von ihm wissen wollen, ob sich bei Pankow ein paar schwarze Schafe befänden, die mit einem Leben im Westen liebäugelten – in dem Fall könne man einer Auslandsreise nicht zustimmen. Ehle beruhigte die Genossen, die Konzerte wurden genehmigt. Ein schlechtes Gewissen hat er dennoch: „Ich mache mir insofern Vorwürfe, lange nicht darüber nachgedacht zu haben, dass das Gesagte in einem anderen Kontext möglicherweise eine andere Bedeutung und Brisanz hätte bekommen können.“ Ehle hat in seiner Band die Vertrauensfrage gestellt. Die anderen haben ihm verziehen. Versöhnung ist dort möglich, wo das Gegeifer der Scheinheiligkeit abprallt. Im November gehen Pankow wieder auf Tour, natürlich nur in Ostdeutschland. Ihr Verhältnis zur Heimat? Zwiespältig. „Erst haben die Leute ihre DDR-Platten weggeschmissen, dann wurden irgendwann wieder DDR-Fahnen geschwenkt“, sagt Herzberg. Es gibt noch viele Mauern, die es einzureißen gilt. Eine davon heißt Ostalgie.

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Nicht vielen war ein Comeback wie Silly vergönnt, die mit Anna Loos zuletzt mehrfach in den Charts standen. Loos ist eine Schauspielerin, die eine Sängerin spielt. Ihre Vorgängerin hatte interessantere Rollen: die Rock-Diva, die politische Aktivistin, der Quoten-Ossi in Talkshowrunden. Die Rolle der Sängerin musste Tamara Danz nicht spielen, das war sie mit Leib und Seele. Kurz vor ihrem Tod heiratete sie Uwe Hassbecker, den Gitarristen ihrer Band. An einem Nachmittag im Mai 2019 deutet Hassbecker auf das Zimmer, in dem Danz gegen ihren Brustkrebs gekämpft hat. Es ist lichtdurchflutet. Der Sonne scheint es egal zu sein, welche Kämpfe hier ausgetragen wurden. Hassbecker lebt mit seiner Familie noch immer in der Wohnung, die Danz Ende der Achtziger mithilfe eines gewissen Günter Schabowski bekam. Das ist lange her. Damals trug die von Dom und Konzerthaus flankierte Fläche den Namen Platz der Akademie. Heute schaut Uwe Hassbecker auf den Berliner Gendarmenmarkt. Früher hatten Silly ihren Proberaum gleich gegenüber in der Französischen Straße. Heute befindet sich dort die „Bunte Schokowelt“ von „Ritter Sport“. Die Geschichte von Silly ist so verflochten und verworren, so reich an wunderbaren Songs und unglaublichen Anekdoten, so voll von Tragik und Schicksalsschlägen, dass es verdammt schwer fällt, sich nicht die Stimme von Tamara Danz vorzustellen. Was würde sie an diesem Tisch sagen, an dem Uwe Hassbecker, Keyboarder Ritchie Barton und Bassist Jäcki Reznicek bei Kaffee und Kuchen in ihren Erinnerungen kramen? An welchen Stellen würde sie ihnen über den Mund fahren, wo würde sie zustimmen?

„„Wir nannten unsere Frisuren aufgeplatzte Sofakissen““

„Tamara hat den Begriff ‚integer sein‘ sehr gepflegt“, betont Barton. Danz und er lernen sich in den frühen Achtzigern kennen und beginnen eine Beziehung. 1982 wechselt Barton von City zu Silly. Er komponiert an vielen der besten Stücke mit, darunter der Titelsong des Albums „Mont Klamott“ (1983). Mit dem finden Silly erstmals zu einer eigenen musikalischen Form, befeuert von New Wave, Disco und Dance-Rock. Die westlichen Einflüsse sind nicht zu überhören. „So hoch kann keine Mauer sein, um das zu verhindern“, meint Barton. Die Lyrics stammen von dem genialen Texter Werner Karma. Aber es ist Danz, die ihnen Leben einhaucht. In ihrem Gesang verschmelzen Stärke und Verwundbarkeit. Keine Rocksängerin der DDR singt so sehnsüchtig und temperamentvoll. Etwa in „Dicke Luft“. Die Single, in der die Luftverschmutzung in Großstädten thematisiert wird, darf nicht im Radio gespielt werden. Denn Smog gibt es in der DDR nicht, der hat an der Mauer anzuhalten. „Mont Klamott“ beschert der Band einen prominenten Bewunderer in der BRD. Der Fotograf Jim Rakete, der auch als Manager von Nena und Nina Hagen arbeitet, verliebt sich in ihre Musik. Ihren Look hält er verglichen mit westlichen Pop-Maßstäben für veraltet. Im Osten stehen Haarspray und Leder noch hoch im Kurs. Silly sind ohne ihre explodierten Frisuren undenkbar. „Wir nannten es aufgeplatztes Sofakissen“, erklärt Hassbecker. Jim Rakete scheitert mit seinem Vorhaben, Silly im Westen bekannt zu machen, nicht an irgendwelchen aufgeplatzten Sofakissen. Er scheitert auch nicht an der Zensur, obwohl einer seiner Mitarbeiter an der Grenze mit einer Kopie von „Zwischen unbefahrenen Gleisen“ erwischt wird. Was dazu führt, dass die Stasi die Song-Texte genauer unter die Lupe nimmt und das Album auf Eis legt.

Tamara Danz: Sängerin und Aktivistin

Jim Rakete scheitert an der Bürokratie der einen Seite und den Vermarktungsmechanismen der anderen. Immerhin veröffentlicht CBS die Platte, an der Silly bis heute gemessen werden. „Bataillon d’Amour“ (1986) hat als Cover Danz’ stilisiertes Antlitz. Danz ist mehr als das Aushängeschild von Silly. Sie wird von Politikern hofiert, die sich mit ihr schmücken wollen. Einmal schüttelt sie Erich Honecker die Hand. Das wird ihr später oft vorgeworfen. Danz weiß ihre Berühmtheit einzusetzen. Um Konzerte im Westen spielen zu können, stellt sie einen Ausreiseantrag. Die erpresserische Aktion lohnt sich, sie bekommt ein Visum. Bei der anstehenden Tour stößt Hassbecker von der Gruppe Stern Meißen zu Silly. Danz hatte ihn bei den Gitarreros, einer Art Allstar-Combo der DDR-Rockmusik, kennengelernt. Hinter den Kulissen bahnt sich eine Affäre zwischen beiden an. Irgendwie gelingt Danz der fließende Übergang von Barton zu Hassbecker, ohne dass die Band auseinanderfliegt. In den späten Achtzigern macht sich eine seltsame Unruhe breit. Niemand hält so etwas wie Mauerfall oder Wiedervereinigung für möglich. Aber es brodelt. Zu viel Zukunft ist schon verbraucht. Der Staatsapparat scheint müde. Vielleicht wirkt die Bedrohung „von oben“ deshalb nicht mehr so direkt wie in früheren Jahrzehnten. „Man wurde zunehmend respektloser“, sagt Hassbecker. „Wir waren jung und unbeschwert. Wir haben das alles nicht so ernst genommen. Und wir haben uns geschützt gefühlt, auch durch unsere Fans.“ Danz habe häufig in den Telefonhörer gerufen: „Habt ihr alles mitgehört?“ Die Stasi hört wohl mit, reagiert jedoch nicht. Auch nicht, als Silly 1989 auf „Februar“ eine untergehende Gesellschaft vorwegnehmen. Nach dem Zerwürfnis mit Werner Karma schreibt Danz die Texte mit dem Liedermacher Gerhard Gundermann. Songs wie „Ein Gespenst geht um“ und „Verlorne Kinder“ sind unheilvolle Vorahnungen, mit Melancholie als Mittel des Widerstands. Silly zählen zu den wenigen Künstlern, die auch nach ’89 dorthin schauen, wo sonst kaum jemand hinschaut. In Christa Wolfs „Sommerstück“ steht ein Satz, der bis heute nachhallt: „Der Schrei, der uns in der Kehle saß, ist nicht ausgestoßen worden.“ Silly stoßen den Schrei nicht nur aus, sie schenken ihm Töne, die den Chor der Wohlstandsprediger aus dem Takt bringt. Und sie machen Bekanntschaft mit einer anderen Form von Zensur. Die Plattenfirma legt der Band einen Stapel Schlagertexte vor. „Tamara hat dazu nur gesagt: ‚So ein Schrott kommt mir nicht über die Lippen‘“, berichtet Barton. Silly verlieren ihren Major-Deal. Die Abrechnung folgt auf der Platte „Hurensöhne“ (1993). „Viele Musiker aus dem Osten haben damals aufgegeben“, konstatiert Hassbecker. Reznicek, der 1986 von Pankow zu Silly ging, meint jedoch, dass manche der neuen Konkurrenz auch nicht gewachsen waren: „Machen wir uns mal nichts vor! In der DDR gab es eben auch Bands, zu denen man gern gesagt hätte: Macht mal lieber nicht Musik.“

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„Paradies“ (1996), das letzte Silly-Album mit Tamara Danz, ist eines jener Meisterwerke, das die Zeit unter den Trümmern der Geschichte begraben hat. Die Platte ist eine Therapie. Und ein Schlag in die Magengrube. Danz starb kurz nach der Veröffentlichung. Doch es ist nicht nur ihr Tod – da schwingt noch etwas anderes mit, das einem in Mark und Bein fährt. „Paradies“ ist ein Abgesang auf die Träume, die sich nicht erfüllt haben. In den besten Liedern, die die ostdeutsche Kultur hervorgebracht hat, schläft eine Traurigkeit, die zu oft runtergeschluckt wurde. „Mich hat mal jemand gefragt, warum ich immer über Probleme singe und meine Lieder so traurig sind“, erzählt Bettina Wegner während eines Konzerts im Berliner Club Wabe. „Ich habe ihm geantwortet: ‚Wir leben in Zeiten der Arbeitsteilung. Ich singe meine traurigen Lieder. Für den Rest sorgen schon genug meiner Kollegen.‘“ Wegner hat auch ein Lied für Tamara Danz geschrieben. Es heißt „Zwei Vogelfrauen“. Der einen stinkt die Heuchelei im Zuge der deutschen Wiedervereinigung zum Himmel, die andere macht aus ihrem Schicksal bare Münze:

So blieben sie nestlos im Wald fremder Siege

Und jede zog ihre Lebensbahn,

Die eine gemütlich verstrickt in der Lüge

Und die andere ist gestorben daran.

30 Jahre nach dem Fall der Mauer sieht es allmählich so aus, als hätten die Lieder überlebt, nicht die Lügen.

Friederike Göckeler
Friederike Göckeler
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