Das sind die 50 besten Country-Alben aller Zeiten

Die wichtigsten Platten der Country Music

Vielleicht begann die Geschichte der Country Music an einem Tag des Jahres 1927, als Jimmie Rodgers in Bristol/Virginia eine Plattenaufnahme machte und Maybelle Carter auch. Da ihre Lieder selbst Geschichten erzählen, Legenden, Parabeln und Moritaten, ist Country Music immer Mythos und Fama – und immer amerikanisches Leben.

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Aber natürlich reicht die Historie dieser amerikanischen Folklore weiter zurück, als es die Vereinigten Staaten von Amerika gibt, und sie reicht über die USA hin­aus, ist keine reine Form, schwer zu definieren und niemals orthodox: Country-Blues, Bluegrass, Hillbilly, Rockabilly, Country Rock, Country-Folk, das weite Feld der Americana – lauter Derivate, Subgenres und Verästelungen.

In unserem Country-Special beleuchten wir den Moment Ende der 60er-Jahre, als Johnny Cash einerseits den Mainstream Amerikas und die Pop-Charts dominierte – ausgerechnet mit seinen beiden Gefängnis-Alben, „At Folsom Prison“ und „At San Quentin“, danach mit seiner Fernseh-Show, in der neben Country-Granden auch Joni Mitchell, Linda Ronstadt, Neil Diamond, James Taylor, Creedence Clearwater Revival, Stevie Wonder und Louis Armstrong auftraten. Und andererseits durch seine improvisierten Aufnahmen mit Bob Dylan in Nashville und dem gemeinsamen Auftritt in Cashs erster Fernsehshow, 1969.

Für die Gegenwart der Country-Folk-Musik steht – neben Kacey Musgraves! – Brandi Carlile, eine umtriebige und erfolgreiche (gerade mit zwei Grammys ausgezeichnete) Songschreiberin, Aktivistin und Netzwerkerin, die wir in ihrem entlegenen Haus im Staat Washington besuchten, wo sie mit Frau und Kind lebt. Landleben ohne Weltabkehr.

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Außerdem haben wir eine Auswahl von Lieblings-Alben getroffen, die im großzügigsten Sinn der Country Music zuzurechnen sind – und indem man das schreibt, sind Zweifel und Widerspruch immanent. Es gibt keine Alben von Jimmie Rodgers und Hank Williams, den Säulenheiligen der Country Music, es gibt bloß Anthologien ihrer Lieder. Naturgemäß fehlen in unserer kleinen Sammlung auch Platten bedeutender Sänger und Songschreiber: von Conway Twitty und Ernest Tubb, Hank Snow und Bob Wills, Charley Pride und Marty Robbins.

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Ihre Namen standen auf den langen Vorschlagslisten der zehn Autoren, die sich freilich für je fünf Platten entscheiden mussten. Eine Regel war: Kein Künstler sollte mit mehr als einem Album vertreten sein – eine Sünde bei ­George Jones und Merle Haggard, Emmylou Harris und Dolly Parton, Willie Nelson und Johnny Cash. Aber von der Sünde handelt Country Music ja.

Unsere launige, eklektische Kompilation ist eine Anregung zum Weiterhören und Weiterlesen – ein Anfang. Hat man die eine Platte gehört, gelangt man zu einer anderen, in ein Universum der Querverweise, Zitate und Analogien, der Tradition und des Bruchs mit der Tradition, des Konformen und der Ketzerei, des Heiligen und des Profanen. Eine Feldforschung in Landmusik.

Goldenes

von Birgit Fuss

Kacey Musgraves: „Pageant Material“

Rein äusserlich sah es vielleicht wie ein Triumph der Spießigkeit aus. Bei den Grammys 2019 gewann Kacey Musgraves den Preis für das „Album of the Year“, gegen Leute wie Drake und Janelle Monáe. Sie gewann auch „Best Country Album“, „Best Country Song“ und „Best Country Solo Performance“. Die 30-jährige Texanerin trug ein knallrotes Wallekleid und eine brave Steckfrisur und bedankte sich bescheiden bei Familie und Kollegen, aber davon darf man sich nicht täuschen lassen. Musgraves ist kein artiges Country-Püppchen. Sie weiß genau, was sie will – und hat das in den vergangenen Jahren gegen alle Nashville-­Widrigkeiten durchgesetzt.

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Eigentlich schade, dass all die Auszeichnungen nun für ihr viertes Album, „Golden Hour“, kamen, das etwas zu harmlos geraten ist, während der Vorgänger „Pageant Material“ (2015) ein herrlich widerspenstiges Werk ist, in dem ihre Verachtung für den konservativen Musikbetrieb und die Hassliebe zu den verschnarchten Südstaaten zusammenkamen mit unverschämt eingängigen Melodien und einem Twang, der nichts Altmodisches hat. Eine Art Loretta Lynn für die Zehnerjahre, mit noch deutlicheren Worten.

Im Hit „Biscuits“ singt Musgraves gegen Neid und Missgunst an: „Pouring salt in my sugar won’t make yours any sweeter/ Pissing in my yard ain’t gonna make yours any greener …/ Mind your own biscuits and life will be gravy.“ Wer da schon nicht lachen konnte, fand den Titelsong vielleicht noch ­gemeiner – er ­demaskiert charmant die amerikanische Oberflächlichkeit. Sie sei kein Schönheitswettbewerb-Material, behauptet Musgraves, und das liege nicht nur an ihren Haaren: „It ain’t that I don’t care about world peace/ But I don’t see how I can fix it in a swimsuit on a stage.“

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Die meisten Lieder schrieb sie mit den Nashville-Profis Luke Laird und Shane McAnally, die ihr zum Glück ihren Eigensinn ließen und das Selbstbewusstsein, mit dem sie in „Dime Store Cowgirl“ so ganz nebenbei Willie Nelson und Gram Parsons erwähnt – okay, noch stellt sie sich hinten an, aber nicht mehr lange.

Musgraves tut nicht so, als wäre ihr der Erfolg egal, sie will ihn nur nicht um jeden Preis. Während 2017 die meisten Country-Stars lieber nichts zu den rechts­extremen Aufmärschen in Charlottes­ville, die mit einer Toten und vielen Verletzten endeten, sagten, weil sie sich wohl noch gut erinnerten, wie den Dixie Chicks damals wegen ihrer Anti-Bush-Ansagen das Publikum weglief, twitterte Musgraves: „Let’s swap confederate statues in USA w/ statues of MLK, Harriet Tubman, Anne Frank, Native Americans + others who have fought for freedom.“

Sie wird noch einen weiten Weg gehen, aber vielleicht kein globaler Superstar werden, denn eine Taylor-Swift-­Werdung scheint bei Musgraves ausgeschlossen, egal wie viel Pop sie noch in ihre Musik packt: „You can take me out of the country/ But you can’t take the country out of me.“

The Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“

Diskutieren wir mal nicht darüber, ob „Sweetheart Of The Rodeo“ 1968 tatsächlich das erste Country-Rock-Album war. Freuen wir uns lieber über die Songs, denn es war auf jeden Fall das umwerfendste (und zu der Zeit erfolgreichste). Neben Roger McGuinn und Chris Hillman hatten die Byrds jetzt einen dritten, den allergrößten Sänger, Gram Parsons, der auch noch „Hickory Wind“ mitbrachte, das felsenfest neben den Songs von Bob Dylan, ­Woody Guthrie, Merle Haggard und den Louvin Brothers steht. Der Tradition neues Leben einpusten und die Gegenwart nicht vergessen: Selten gelingt beides auf einmal. Mit den Flying Burrito ­Brothers ging es (ohne McGuinn) genauso berückend weiter.

Lucinda Williams: „Car Wheels On A Gravel Road“

„Not a day goes by I don’t think about you/ You left your mark on me, it’s permanent, a tattoo/ Pierce the skin and the blood runs through“: Das sind die ersten Worte auf Lucinda Williams’ fünftem Album, und wer bei diesen 13 Songs kein Blut rauschen fühlt, der kann einem nur leidtun. Manchen Männern war die rohe Energie wohl zu viel: Steve Earle verzweifelte fast im Studio, Roy Bittan kümmerte sich schließlich um die letzten Produktionsdetails – doch man hört dieser Platte die Krisen und Krämpfe nicht an. Williams singt noch die sehnsüchtigsten Melodien ohne jeglichen Kitsch, sie ist ganz bei sich. Ein Meisterwerk voller Trotz, Trauer, Lebenslust, ein Durchbruch in mehr als einer Hinsicht.

Merle Haggard: „If I Could Only Fly“

Zahlen sind an sich ja noch kein Verdienst, aber: Wer schafft schon 50 ­Alben? Und wer schafft ein gutes 50. Album? Mit 63? „If I Could ­Only Fly“ (2000) kann es mit Merle ­Haggards Klassikern aufnehmen, der beißende Sarkasmus des „Okie From Muskogee“ ist einem sanften Spott gewichen, und der steht ihm gut. In „Wishing All These Old Things Were New“ neidet Haggard den Kumpels die Linie Koks, die er sich nicht mehr erlauben kann, und lässt sich von den besorgten Kindern das Rauchen verbieten. So lustig, so traurig, so schön kann Resignation klingen – auch bei den folgenden Songs. Die Sonne geht unter, das Aufbrechen wird immer schwieriger. Aber The Hag hatte immerhin noch 16 Jahre.

Jason Isbell: „Something More Than Free“

Jason Isbell war 22, als er erst Gitarrist der Drive-By Truckers wurde, dann Alkoholiker. 2007, mit 28, befreite er sich von der Band, 2012 von der Sucht, seitdem gelingt ihm ein gutes Solo­album nach dem anderen. Auf dem fünften, „Some­thing More Than Free“ (2015), spielt er all seine Stärken aus: Isbell hat nicht nur einen Sinn für unwiderstehliche Melodien, die er mit allen möglichen Gitarrensounds unterstützt, er traut sich auch direkt ans Herz gehende Texte, die ohne Country-­Klischees auskommen. Mit seiner Frau, der ebenso begabten Singer-Songwriterin und Violinistin Amanda Shires, bildet er jetzt ein Nashville-Power-Paar, das uns noch lange erfreuen wird. Vier Grammys stehen schon auf dem Kaminsims.

Essenzielles

von Max Gösche

Dolly Parton: „Coat Of Many Colors“

Lange bevor sie zum wasserstoffgebleichten, üppig auftoupierten Country-Pin-up mutierte, bevor sie zu einer aus Schönheitsoperationen zusammengepuzzelten Karikatur ihrer selbst verflachte, war Dolly Parton nicht nur ­eine große Sängerin. Sie war – anders als prominente Kolleginnen wie Emmy­lou Harris und Linda Ronstadt – auch eine große Songschreiberin. Jeder Mensch kennt „Jolene“, jeder Mensch kennt „I Will Always Love You“, ein zartes Liebeslied, das Whitney Houstons erotisiertes „Bodyguard“-Fanal nicht gebraucht, aber das Konto seiner Urheberin gut gefüllt hat.

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Schon auf ihrem Debütalbum, „Hello, I’m Dolly“ von 1967, wird Parton bei den meisten Stücken als Koautorin geführt. Sie ließ sich von den Kerlen nie die Butter vom Brot nehmen, behielt in einem Genre, das nicht unbedingt dafür bekannt ist, tradierte Geschlechterrollen zu hinterfragen, die krea­tive Kontrolle. Dafür wird sie heute zu Recht verehrt.

1971 erreichte sie den Zenit ihrer Kunst, veröffentlichte vier Alben, eines mit ihrem Mentor Porter Wagoner, drei solo, das beste davon: „Coat Of Many Colors“. Dabei enthält es nicht mal die Parton-typischen Selbstbehauptungslieder, mit denen sie etwa untreuen Partnern die Stirn bot. Die Platte ist vielmehr ein nostalgischer Ritt durch die Vergangenheit, eine Reise zu den Sehnsuchtsorten, in die von Parton heiß geliebte und viel besungene Heimat in den Great Smoky Mountains, in eine Zeit ­familiärer Geborgen­heit, der Begierden der Jugend und der Schmerzen des Erwachsen­werdens.

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„Traveling Man“ und „She Never Met A Man (She Didn’t Like)“ erzählen mit trügerischem Liebreiz von Frauen, die sich nehmen, was sie wollen. „My Blue Tears“ entwirft ein ironisches Bild reinsten Kummers. Von den drei Stücken aus Wagoners Feder rührt vor allem die anmutige Ballade „The Way I See You“ zu Tränen, weil es sich nicht schämt zu sagen, was es heißt, jemanden anzubeten. Doch ist es dieses Titelstück, das einem das Herz bricht, diese Erinnerung an die Kindheit, als das Geld knapp war und Mutter aus der Not eine Tugend machte. Es ist die Essenz von Country: ­eine denkbar einfache Geschichte über denkbar einfache Leute in einem einfachen Lied, das die kleinen Dinge des Lebens preist.

Heute wirbt die Grande Dame mit Konzerten um Spenden für die kostenintensive Instandhaltung ihres Vergnügungsparks Dollywood und die noch kostenintensivere Instandhaltung ihrer körperlichen Fassade. Den Wahnwitz des Showgeschäfts parodiert Parton mit ihrem bloßen Antlitz. Nicht immer scheint ihr das bewusst zu sein. Aber vielleicht kann sie die Kindheit gerade deshalb so berückend besingen, weil sie weiß, dass es das Paradies ist, in das wir nie mehr zurückkehren können. Was bleibt, ist der Stachel der Wehmut. Und was ist diese Wehmut anderes als eine aus bunten Lumpen zusammen­genähte Jacke?

Linda Ronstadt: „Heart Like A Wheel“

Mindestens drei Kriterien heben „Heart Like A Wheel“ aus dem Gros der Country-Platten der 70er-Jahre hervor: Da wäre zuerst einmal Peter Ashers brillante Produktion, die sich mehr dem Westcoast-Rock verdankt als traditioneller Südstaaten-Glorie. Da wäre die Song-Auswahl von „You’re No Good“, das Ronstadt an die Spitze der Charts führte, bis zum ultimativen Tearjerker „Faithless Love“, vom titelgebenden Stück der McGarrigle-­Sisters über Little Feats „Willin’“ bis zum Hank-Williams-Klassiker „I Can’t Help It (If I’m Still In Love With You)“. Und da wäre Ronstadts Talent, sich all diese Stücke und Stile gesanglich so einzuverleiben, dass daraus ein Gesamt­kunstwerk wird.

Willie Nelson: „Red Headed Stranger“

Als den Verantwortlichen bei Columbia das Resultat präsentiert wurde, glaubten sie eine Demoversion zu hören. Die minimalistischen Arrangements von „Red Headed Stranger“ entsprachen jedoch genau der Idee seines Erfinders: ein Konzeptalbum über einen Prediger, der vor dem Gesetz flieht, weil er seine Frau und ihren Geliebten ermordet hat. Es ist die Geschichte einer Seele auf der Suche nach Erlösung. Nelson legt sie 1975 nicht als Roadmovie an, sondern als poetischen Western mit langer Zoom-­Bewegung. Um den Kern des 1953 von Edith Lindeman und Carl Stutz geschriebenen Titelsongs spinnt er ein melancholisches Epos aus Folk, ­Gospel, Country und Tin Pan Alley.

Rosanne Cash: „King’s Record Shop“

Das schönste Album aus Cashs Frühphase. Man kann den leicht überproduzierten Achtziger-Sound beklagen. Tatsächlich aber kommt gerade in dieser Mischung aus Country, Pop und AOR der Facettenreichtum dieser Künstlerin zum Klingen. Eliza Gilkysons „­Rosie Strike Back“ gerät ihr zur emanzipatorischen Beschwörung. John Hiatts „The Way We Make A Broken Heart“ überbietet sie nur noch mit Rodney Crowells „I Don’t Have To Crawl“, einer gigantischen Ballade. Dass sie auch selbst grandiose Songs schreibt, zeigt vor allem „The Real Me“. Nur Johnnys „Tennessee Flat Top Box“ wirkt wie ein Fremdkörper. „King’s Record Shop“ war ein wichtiger Schritt heraus aus des Vaters übermächtigem Schatten.

Neil Young: „Comes A Time“

Country war immer schon ein Grundpfeiler in Youngs Schaffen. „Comes A Time“ (1978) ist ländliche Idylle in Rein­form und beseelt von einer waidwunden Melancholie, die Nash­ville gern in getreidesiloartigen Mengen unters Volk bringen würde, die aber nicht zu haben ist für ein ranziges Heimatgefühl. „Field Of Opportunity“ und „Motor­cycle ­Mama“ gehören sicher nicht zu Youngs songschreiberischen Sternstunden, dafür schlägt der Rest des Albums vieles, was er seither, und manches, was er zuvor komponiert hat. Herzzerreißendere Balladen als „­Peace Of Mind“, „Lotta Love“ und „Already One“ gibt es gar nicht. Am Ende, in Ian Tysons „Four Strong Winds“, ist alles verweht, nur die Hoffnung nicht.

Zwielichtiges

von Wolfgang Doebeling

Gram Parsons: „Grievous Angel“

Schon am Anfang durchwehen Todesahnungen den transzendenten Roadtrip durchs mythische Amerika. „Out with the truckers and the kickers and the cowboy angels“, fordern Gram Parsons und Emmylou Harris, innig vereint in der Euphorie himmelstürmender Harmonies, „and a good saloon in every single town.“ Nirgendwo kam Gram Parsons seiner Vorstellung von auratischer Cowboy Music näher als auf diesem ersten Track: „Return Of The Grievous Angel“. Doch auch hier, zwischen all den Billboards und Truckstops, inmitten der weiten Prärien und wogenden Kornfelder, lässt sich Bedrohliches erkennen, Zwielichtiges, Endzeitliches. „I saw my devil and I saw my deep blue sea“, singt Gram, „now I know just what I have to do.“ James Burtons Gitarre wird um Beistand gebeten, einen verlässlicheren gibt es nicht.

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Erst posthum erschienen, vier Monate nach Grams Ableben 1973, zeigt „Grievous Angel“ den Visionär im Vollbesitz seiner kreativen Potenz, hinter sich die Cracks von Elvis Presleys Band mit Burton, Glen D. Hardin, Emory Gordy und Ronnie Tutt, an seiner Seite die empathische Stimme von Emmylou Harris. A match made in heaven. Es wurde schon seinerzeit viel gemunkelt, ob da mehr im Spiel gewesen sein könnte als musikalische Synergie, doch wird man wohl auf Emmylous immer wieder verschobene Autobiografie warten müssen, um Antworten auf solche heiklen Fragen zu erhalten. Jedenfalls fand das als LP-Covermotiv vorgesehene Foto – Gram und Emmy rittlings auf einem Motorrad – nicht das Placet von Gretchen, der damals wohl nicht ganz grundlos von Eifersucht geplagten Witwe.

Letztlich ungeklärt bleiben auch die Umstände von Grams Tod. Ein erbärmliches, drogeninduziertes Ende war es, so viel scheint sicher. Und da war dann noch die Sache mit der Entführung des Leichnams und dessen Abfackelung in der Wüste. Immerhin diesbezüglich ist alles aktenkundig, weil der überführte Leichendieb, Grams Vertrauter Phil Kaufman, die Straftat in allen bizarren Details dokumentiert hat. Kaufman glaubt auch zu wissen, was die Ursache für die Drogenabhängigkeit seines Kumpels war: Dessen Bewunderung für die Rolling Stones sei es gewesen. Gram hatte vor allem Keith Richards nachgeeifert, was ihn an den Rand des Abgrunds geführt habe und noch einen Schritt weiter. „Gram glaubte mit Keith mithalten zu können“, resümierte Kaufman, „but he was dead wrong.“

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Der finale Song auf „Grievous Angel“ heißt „In My Hour Of Darkness“, ist zugleich Stoßgebet und Selbstspiegelung. Wer sonst könnte der junge Mann sein, der die silber­saitige Gitarre spielt? „He was just a country boy, his simple songs confess/ But the music he had in him so very few possess.“ Hierin liegt die eigentliche Tragik von Gram Parsons’ Lebens­werk: Ruhm und Reichtum sahnten andere ab, die Eagles etwa, deren konfektionierter Country-Rock von Parsons ungnädig als „Bubblegum“ geschmäht wurde. Ain’t no ­justice in this world.

George Jones: „Blue & Lonesome“

Die Verlassenen und Verlorenen, deren Geschichten hier 1964 preisgegeben werden, ergehen sich in Selbstmitleid, beklagen das Schicksal, doch finden sie die Schuld an ihrem Elend nicht selten bei sich selbst. Die Sauftour mit dem alten Freund durch „every honky tonk in town“ endet mit lebenslanger Haft, „I just had to bring him down“. ­George Jones schlingt seine unvergleichlichen Stimmbänder um die Vokale, als wollte er aus ihnen letzte Wahrheiten pressen, dazu lässt die superbe Session-Crew solidarisch Steel-Guitars stöhnen und Fiddles schluchzen, in der Tradition klassischer Tearjerker, ohne Crossover-Kalkül und urbane Allüren. „The sound of breaking hearts“ nannte Jones das. Er musste es ja wissen.

Guy Clark: „Old No. 1“

Viele Jahre lang hatte Guy Clark an seinen Songs gefeilt, inspiriert von den Folk- und Blues-Veteranen seiner texanischen Diaspora, später von den Outlaws um Willie Nelson und nicht zuletzt von der Songpoesie seines Freundes ­Townes Van Zandt. Clark war der Story­teller unter den Texas Troubadours und hatte sich schon damit abgefunden, seine Margaritas als Songlieferant für namhafte Interpreten wie Jerry Jeff Walker verdienen zu müssen, als er 1974 mit 33 die Chance erhielt, eine eigene Platte aufzunehmen. Dafür wählte er seine allerbesten Songs aus, unsicher, ob es zu einer zweiten kommen würde. Herrlich lakonisch sind diese Lieder, aber bei aller Bodenhaftung durchaus auch von philosophischer Tragweite.

Emmylou Harris: „Roses In The Snow“

Nach Gram Parsons’ Tod hatte Emmylou Harris tapfer sein musikalisches ­Erbe angetreten und seine Utopie einer Cosmic American Music wachgehalten, an ihrer Seite ein Dreamteam aus Musikern der atemberaubenden Hot Band und dem kongenialen Produzenten Brian Ahern. Gemeinsam setzte man Standards, die bis heute unerreicht sind. „Roses In The Snow“ (1980) verschob die Klangachse zwar ins Halbakustische, begab sich dicht an die Grenze zu Bluegrass, mit Traditionals sowie antiken Songs von A. P. Carter und den Louvin Brothers, doch wagt sich die einstige Folk-­Sängerin auch an Paul Simons „The Boxer“, schlüpft in die Rolle des Jungen, der alles entbehrt außer einem „come-on from the whores on 7th Avenue“.

The Nitty Gritty Dirt Band: „Will The Circle Be Unbroken“

Eine so herzerwärmende wie ausgesprochen lehrreiche Begegnung der Generationen, organisiert 1972 von „a bunch of long-haired West Coast boys“, wie Roy Acuff die Gastgeber der Nitty Gritty Dirt Band nannte. Acuff nahm mit anderen Pionieren des Country & Western wie Maybelle Carter und Earl Scruggs an den Sessions teil, um etwas von seiner reichen Erfahrung weiterzugeben an die jungen Virtuosen, räumte danach aber ein, selbst hinzugelernt zu haben. Das gilt auch für Doc Watson und ­Merle Travis, zwei Altvordere, die sich während der Aufnahmen erstmals trafen. Wir werden Zeuge dieses Treffens sowie etlicher anderer erhellender Gespräche und genießen mehr als hundert ­Minuten fantastischer Musik.

Göttliches

von Gunter Blank

Hank Williams: „Hank Williams Sings“

Ob Dylan, Cash, Van Zandt oder Hank Williams der größte Singer-Songwriter aller Zeiten ist, wird nicht einmal mehr die Geschichte entscheiden. Fest steht nur, dass Hank alles vorwegnahm, was danach die Country-Musik groß machte.

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Man konnte es anders machen, vielleicht gleich gut, aber nie mehr besser. Allein ein Album, das seine Songs bündelt und ihn auf der ­Höhe seiner Fähigkeiten zeigte, hat er nie eingespielt. Jedenfalls listet die Top-500-­Liste des amerikanischen ROLLING STONE auf Platz 88 nur eine „Greatest Hits“ von 1978. Das Schicksal, kein Signature-Album zu haben, teilt er mit anderen Country-Granden dieser Zeit, von Jimmie Rodgers über Ernest Tubb bis zu Roy Rogers. Weil das damals schlicht nicht üblich war.

Bis fast in die Sechziger war Country ein Singles-Markt, auch die ab Mitte der Fünfziger populär werdenden LPs funktionierten lange nach dem Prinzip, ein oder zwei „Killer“ mit acht bis zehn Fillern zu kombinieren, weshalb es zum Beispiel auch von George Jones kein wirklich grandioses Album gibt, obwohl der Mann einen unsterblichen Song nach dem anderen ablieferte. Einzig Merle Travis schuf 1947 mit „Folk Songs Of The Hills“ so etwas wie einen Prototyp des Konzeptalbums. Wobei der Begriff Album hier seinen Ursprung hat, die acht Songs kamen verteilt auf vier 10inch-Schellacks, die in einer aufklappbaren Kartonage steckten, auf der ein „­Albumcover“ prangte.

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Auch von Hank Williams hat MGM zu seinen Lebzeiten zwei solcher Alben veröffentlicht. Allerdings sind „Hank Williams Sings“ (1951) und „Moanin’ The Blues“ (1952) keine Kinder künstlerischer Wertschätzung. Im Gegenteil, die Plattenfirma betrieb mit den lieblos auf einen eher nicht­existenten Markt – welcher Haushalt besaß damals schon einen Plattenwechsler? – geworfenen Produkten so etwas wie Resteverwertung. Dazu gehörte wohl auch, dass zusätzlich zu den Schellacks auch (vermutlich für Radiostationen gedachte) Vinyl-LPs gepresst wurden.

Obwohl Colin Escott in seiner Biografie dies ausdrücklich vermerkt, kam niemand je auf die Idee, diese beiden raren Exemplare wiederzuveröffentlichen. Sie sind praktisch vergessen. Dabei finden sich auf beiden absolute Highlights, sodass man sie ohne sich zu verrenken und eingedenk der Zeitumstände zu den besten Country-­Platten aller Zeiten rechnen kann. „Sings“ ist mit „Lost Highway“, „I Saw The Light“, „Six More Miles“ und „Wedding Bells“ etwas breiter gefächert, „Moanin’“ enthält dafür mit „Lovesick Blues“, „Honky Tonk Blues“ und „I’m So Lone­some I Could Cry“ drei epochale Klassiker.

„Six More Miles“ und „Honky Tonk Blues“ weisen in Richtung Cash, „Wedding Bells“ und „A Mansion On The Hill“ in Richtung Jones. „Lost Highway“ und „I’m So Lone­some“ sind die beiden quintessenziellen Country-Songs schlechthin. Ol’ Hank wusste schon, wie es sich anfühlt, als Dylan noch in kurzen Hosen rumlief.

Townes Van Zandt: „For The Sake Of The Song“

Okay, die Orgel-Chor-Harmonien auf „The Velvet Voices“ sind vielleicht etwas overdone, aber da sind wir schon acht Songs tief in Townes Van Zandts ’68er Debütalbum, das wenigstens drei seiner besten Songs enthält. „For The Sake Of The Song“, „Tecumseh Valley“ und „Waiting ’Round To Die“ beinhalten bereits die Essenz seines Schaffens. Puristen würden vielleicht „Live At The Old Quarter“ vorziehen, aber die Morricone-­artige Percussion und vor allem die leicht mariachi-haft anmutenden Arrangements verleihen der melan­cholischen Grundstimmung der elf Songs einen Hauch heiterer Beschwingtheit. Der Abgrund hatte sich erst einen Spalt weit geöffnet, und an seinen Rändern rankten noch ein paar Blumen.

Dwight Yoakam: „Guitars, Cadillacs, Etc., Etc.“

Die ersten drei Alben waren Kracher, mit denen der Mann aus Kentucky mit der kieksenden Stimme und dem satyr­haften Geigenspiel die Punk­schuppen von L.A. aufmischte. Den Vorzug bekommt das Debüt von 1986, mit dem Yoakam den Urban Cowboy als Kunstfigur etablierte. Im ersten Stück noch selbstgewisser Honkytonk Man, jagt ihn zu Beginn der B-Seite im Titelsong ein kaltherziges L.A.-Girl in die einsamen Straßen. Gleichwohl entstand dort eine ewig währende Hassliebe zu dieser Stadt, die 2004 in den grandio­sen, von Yoakam orchestrierten Konzert­film „­Return To Sin City“ mündete, seine Hommage auf Gram Parsons, dessen Geist bereits unüberhörbar durch „­Guitars, Cadillacs, Etc., Etc.“ wabert.

Steve Earle: „El Corazón“

 

Es sind nicht die Gastauftritte von Emmylou Harris und den Supersuckers, die den Unterschied zu den gleichfalls herausragenden und E-Gitarren-dreckigen „Guitar Town“ und „Copperhead Road“ ausmachen. Was „El Corazón“ (1997) zu einem ganz großen Album macht, ist Earles Nachruf auf ­Townes Van Zandt, dessen Tod er in „Ft. Worth Blues“ mit weltumspannender Zärtlichkeit betrauert und dabei zwischen all den Impressionen von rot-blau schillerndem Neon und silbern glitzerndem Mondlicht noch mit dem größten aller Country-­Mythen aufräumt: „You used to say the highway was your home/ But we both know that ain’t true/ It’s just the only place a man can go/ When he don’t know where he’s travelin’ to.“

Dale Watson: „Cheatin‘ Heart Attack“

Das erste Mal sah ich Dale Watson, als er mit der Spitze seines Cowboystiefels im Hinterzimmer der Black Cat Lounge in Austin eine Kakerlake zerquetschte, die eine seiner Verehrerinnen erschreckt hatte. Jeder Zoll der Gentleman, der beim Konzert eben noch aus dem lyrischen Jenseits der frisch geschiedenen Ex geraten hatte, sein weggeblasenes Hirn mit „Muskelschmalz, Spachtel und Pine-Sol“ von der Wand zu kratzen. „Holes In The Wall“, das Highlight seines von Trennungsschmerz durchwehten Debüts von 1995, beschwört mit Waylon’schen Slides und Wills’schem Twang Watsons Idole Haggard und Jones. Retro? Mag sein, aber solange Bob Wills König von Austin ist, ist ­Dale Watson der rechtmäßige Kronprinz.

Silberfuchsiges

von Arne Willander

Charlie Rich: „Behind Closed Doors“

Er war der Schattenmann der Country Music: Als Charlie Rich Mitte der 50er-Jahre Songs für Judd Phillips, den Bruder des Label-Chefs von Sun Records, schrieb, waren sie ihm zu sehr Jazz und Blues. Sun Records hatte jetzt ­Elvis Presley. 1956 nahm Rich mit Roy Orbison einen Schwung Elvis-­Hits auf.

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Er durfte dann bei der kleinen Filiale von Sun, Phillips International, seine Singles veröffentlichen und Lieder für Johnny Cash und Jerry Lee Lewis schreiben. 1960 hatte er einen eigenen Hit, „Lonely Weekends“. Er wechselte immerzu die Labels. Auch bei RCA schaffte er es nur ins Boudoir, zu Groove. Er schrieb „Big Boss Man“, 1964, das dann Elvis sang. Bei Mercury erschienen seine Platten auf Smash. Er schrieb „Mohair Sam“, 1965.

Und 1967 unterschrieb er bei Epic. Rich war 35 Jahre alt, es gab lauter Hippies und Engländer, psychedelische Rockbands und die Doors. Niemand wollte einen Country-­Sänger aus Arkansas, der ein paar kleine Hits gesungen hatte. Dann kam der Produzent Billy Sherrill, vier Jahre jünger als Rich, der gerade Tammy Wynette berühmt gemacht hatte.

Sherrill rüschte die Country-Songs mit Streicher-­Arrangements auf, und wo Fiddle und Banjo und Mandoline und Steel-Guitar gewesen waren, da waren nun viele Fiddles und Banjos und Mandolinen und Steel-Guitars. Man nannte es bald den Nashville-­Sound, dann Countrypolitan. Das Album „Set Me Free“ erreichte Platz 44 der Country-Charts – es war noch nicht der Jackpot. 1971 kam George Jones zu Epic, und Sherrill hatte einen weiteren Schützling.

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1973 erschien „Behind Closed Doors“ mit dem Song, für den Charlie Rich berühmt ist, den er aber nicht geschrieben hat: Unter den drei Autoren von „The Most Beautiful Girl“ ist Billy Sherrill. „Behind Closed Doors“ ist ein Balladen-Album, das Gospel-Glut, Jimmy-Webb-­Sentiment und schieren Schmalz zu flüssigem Gold alchemisiert. Obwohl Rich kaum einen Song der Platte verfasst hat, kann man sich vorstellen, dass die Minnesänge seiner Frau Margaret Ann (nicht Ann-­Margret) gewidmet sind. Charlie Rich bekam für „The Most Beautiful Girl“ einen Grammy, das Stück war ein Nummer-1-Hit.

Rich hatte aus Kummer viel getrunken, jetzt trank er aus Übermut zu viel. 1975 erschienen seine letzten beiden erfolgreichen Alben, „The Silver Fox“ und „Every Time You Touch Me (I Get High)“. Bei den Country Music Awards präsentierte Rich den Gewinner, stürzte betrunken auf die Bühne und zündete das Kuvert mit dem Namen des Gewinners an. Es war John Denver.

1979 nahm Rich ein Album mit Jerry Lee Lewis und Carl Perkins auf, er strauchelte durch die 80er-Jahre, der Silberfuchs am Piano, ein Liberace des Western-Saloons. Drei Jahre vor seinem Tod, 1992, gelang ihm sein spätes Meisterwerk: „Pictures And Paintings“. Charlie Rich hatte die Country Music transzendiert.

The Palace Brothers: „There Is No-One What Will Take Care Of You“

Als die Platte 1993 erschien, gab es keinen Hinweis auf ihren Schöpfer. Will Oldham, ein erratischer 24-jähriger Lepto­somer aus Kentucky, der sich in Los Angeles als Schauspieler versucht hatte, nahm diese Lieder über Gottverlassenheit und Trunksucht, Einsamkeit und Inzucht mithilfe einiger Freunde auf. Mit dem ostentativ zerdehnten Dilettantismus einer verzweifelten Feuerwehrkapelle und brüchigem Katzengesang navigiert Oldham durch die amerikanischen Provinzen der Trostlosigkeit. Später wurde er als Bonnie „Prince“ Billy zum enigmatischen Freigeist der Americana-Kunst, und noch später spielte er hingebungsvoll die Songs seines Idols Merle Haggard nach.

Ween: „12 Golden Country Greats“

Die Brüder Dean und Gene Ween, berüchtigte Witzbolde der Stilparodie, brachten 1996 eine Sammlung drolliger Country-Songs heraus, die als Satire missverstanden wurde. Freilich: Songtitel wie „Piss Up A Rope“ und „Help Me Scrape The Mucus Off My Brain“ sind nicht die treuherzige Lyrik des Farmers im Heartland. Die Schelme arrangierten so traditionsversessen und wonnig Fiddle, Pedal-Steel-Gitarre und Chöre, Harmonika und Gitarrensoli, dass es den Altvorderen eine Freude war: Für die Sessions in Bradley’s Barn in Tennessee hatten Ween die legendären Musiker Hargus „Pig“ Robbins, Charlie McCoy, Pete Wade und Elvis’ Gesangsgruppe The Jordanaires engagiert.

Souled American: „Sonny“

Diese drei Amerikaner machten sich einen kleinen Namen damit, dass sie die verschlurftesten Langschläfer-Country-­Oden spielten. Chris Grigoroff, Joe Adduc­ci und Scott Tuma gründeten Mitte der 80er-Jahre Souled American in einer Stadt namens Normal in Illinois und entschleunigten Trauerlieder noch spektakulärer als bald Uncle ­Tupelo und Lambchop. 1992 erschien ihr viertes Album, „Sonny“, ein Reigen von Traditionals wie „Rock That ­Cradle Lucy“ und Songs von John Prine und den Louvin Brothers. Bei Konzerten dauerte das Stimmen der Instrumente fast so lange wie die Stücke dazwischen. Zwei Alben erschienen noch. Seit 20 Jahren kündi­gen sie eine neue Platte an.

Elvis Presley: „Elvis Country“

Der kryptische Obertitel „I’m 10.000 Years Old“ sollte 1971 Elvis Presleys Wurzelfestigkeit beschwören: Dieser Mann ist das Land selbst. Schnipsel des Songs verbinden die Stücke. Auf dem Cover ist ein Foto des Knirpses abgebildet. Allerliebst: der Hut! Ernest Tubbs „Tomorrow Never Comes“, Bill Monroes „Little Cabin On The Hill“, Willie Nelsons „Funny How Time Slips Away“, Bob Wills’ „Faded Love“, Hank Cockrans „Make The World Go Away“ sind eine kurios eklektische Angelegenheit – James Burtons Gitarrenspiel, Streicherschwulst, Bläser und glühende Chorgesänge besorgen den einzigen authentischen Country-Music-Kitsch, der in Las ­Vegas domestiziert ist. Konnte nur Elvis.

Fünf von Jörg Feyer

Son Volt: „Honky Tonk“

Hätte man kaum vermutet, dass Son Volt mal so eine tolle Verbeugung in Richtung „Bakersfield“ (Songtitel) hinlegen. Jenseits des lupenreinen Fiddle/Pedal Steel-Halle­lujahs im Geiste von Buck und Merle jedoch gehören elf wunderbare Songs auch als Sänger nur Jay Farrar. „Down The Highway“, „­Livin’ On“, „Tears Of Change“ oder „Angel Of The Blues“ verwandeln die alte Honky-Tonk-­Botschaft in ein aktuelles Manifest von Kraft, Ruhe, Hoffnung: Buddha-Country für das 21. Jahrhundert?

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Rodney Crowell: „The Houston Kid“

Kommerz und Klasse hatte der Texaner schon 1988 mit dem Fünf-Nummer-1-Hits-Monster „Diamonds & Dirt“ ultimativ vereint. Aber erst die Rückschau auf seine Kindheit in East Houston von 2001 entfesselte auch den Autor Rodney Crowell wirklich. Tiefer drängende Songs als „I Wish It Would Rain“ hatte er bis dahin nicht geschrieben. Und sein Rewrite von „I Walk The Line“ ist ebenso furchtlos wie amüsant. Da mochte auch Ex-Schwiegervater Johnny Cash einer Gast­einlage nicht widerstehen.

Buck Owens & The Buckaroos: „I’ve Got A Tiger By The Tail“

„I shall make no record that is not a country record“, warb der Texaner 1965 in Nashville für sich. „I’ve Got A Tiger By The Tail“ ließ dar­an nicht zweifeln. Owens hatte schon zuvor Erfolge („Under Your Spell Again“), doch 15 Nummer‑1-­Hits in Folge regnete es erst, als er und Don Rich auf Fender Stratocaster umstiegen. Der knackig-klassische Bakersfield-­Sound war geboren und selbst Chuck Berry („Memphis“) kein Problem mehr. Ohne Buck Owens und Don Rich kein Dwight Yoakam.

Bobby Bare: „Sings Lullabys, Legends And Lies“

Es kann Fluch oder Segen sein, wenn ein Interpret allzu sehr von einem Songschreiber abhängig ist. Doch in Bobby Bare und Shel Silverstein hatten sich vorübergehend zweifellos die Richtigen gefunden, um ein paar amerikanische Mythen und Schnurren mit lässigem Humor durch den Wolf zu drehen. „Lullabys, Legends And Lies“ brachte 1973 mit der Bayou-Queen Marie Laveau sogar einen Nummer‑1-Hit. Und Bobby Jr. fand sich mit acht im grammy­nominierten „Daddy What If“ wieder.

Loretta Lynn: „Don’t Come Home A Drinkin‘ (With Lovin‘ On Your Mind)“

Mit 72 wurde sie auf „Van Lear ­Rose“ von Jack White, na ja, „wiederentdeckt“. ­Ihren 87. feiert sie mit einer großen Allstar-­Sause. Doch Loretta Lynn war schon Women’s Lib und #­MeToo, lange bevor diese Begriffe geboren wurden. Und es begann 1967 mit „Don’t ­Come Home A Drinkin’ (With ­Lovin’ On Your Mind)“. Der Titelsong, „The Shoe Goes On The Other Foot Tonight“ oder „I’m Living In Two Worlds“ brachten unsentimental Küchenwahrheiten für alle auf den Punkt.

Fünf von Ina Simone Mautz

Clem Snide: „The Ghost Of Fashion“

Das dritte Album (2001) der nach einer Romanfigur von William S. Burroughs benannten Alt-Country-Band aus Boston ist ihr schönstes, stürmischstes und kontrastreichstes: Großzügig ausstaffierte Songs wie „Let’s Explode“ stehen andächtiger Reduziertheit gegenüber; berührende, pointierte Lyrik trifft auf Eef Barzelays Faible für Humor und clevere Wortspiele („­Joan Jett Of Arc“). Und dazwischen denkt er sich Aphorismen aus: „The highway’s a ribbon/ It ­makes a gift of everything.“

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John Hartford: „Earthwords & Music“

Die Fiddle- und Banjo-­Kory­phäe John Hartford (auch auf The Byrds’ „Sweetheart Of The Rodeo“ zu hören) zog 1965 nach Nashville und begann eigene Lieder zu komponieren. Auf „Earthwords & Music“ (1967) ist sein größter Erfolg als Songwriter zu finden: „Gentle On My Mind“, von Glen Campbell zum Hit gemacht, später unter anderem von Elvis und Sinatra interpretiert. Sein spezieller Humor funktioniert aber nur im Original. Wer sonst würde über Waschmaschinen und Backnatron singen?

Micah P. Hinson: „Micah P. Hinson And The Red Empire Orchestra“

Micah P. Hinsons Biografie ist ein einziger dramatischer Country-Song: Jugend im furchtbar religiösen texanischen Städtchen Abi­lene, Schmerzmittelabhängigkeit, Knast, Obdachlosigkeit – John Congletons Angebot, Hinsons drittes Album zu produzieren, war dessen Rettung. Noch keine 30, klingt er hier, 2008, wie ­eine barriquefassgereifte Melange aus Bill Callahan und Kurt Wagner. Der herzergreifende Americana-Reigen wurde in einer ehemaligen Leichenhalle aufgenommen. Unvergänglich.

Richmond Fontaine: „You Can’t Go Back If There’s Nothing To Go Back To“

Das finale und beste Album der 1994 in Portland gegründeten Band um Willy Vlautin – auch ein beachteter Literat. Seine Storyteller-Qualitäten werden mit Raymond Carver verglichen, die Musik von Richmond Fontaine mit Uncle Tupelo. Er selbst verortet seine Wurzeln bei Gram Parsons und Dave Alvin. Das Herz von „You Can’t Go Back If There’s Nothing To Go Back To“ (2016) gehört den Gescheiterten, die sich den Blick für die Schönheit der untergehenden Sonne bewahrt haben.

Tammy Wynette: „Stand By Your Man“

Die „First Lady of Country Music“ besang auf ihrem ironischerweise direkt auf „D-I-V-O-R-C-E“ folgenden vierten Album, „Stand By Your Man“ (der Titeltrack gewann 1970 einen Grammy), nur scheinbar die bedingungslose Treue: Viele der Lieder behandeln das Post-Scheidungs-Chaos. Wynette gab mit „I ­Stayed Long Enough“ ihren Einstand als Songwriterin. ­Billy Sherrill verlieh der Platte, die neben dem Remake „It’s My Way“ nur Originale präsentiert, den typischen Nashville-Sound.

Fünf von Maik Brüggemeyer

Ray Charles: „Modern Sounds In Country And Western Music“

Ray Charles öffnete bereits Anfang der Sechziger Pop-Ohren für Country. Mit Streichern, Bläser, Chören und leidenschaftlicher Intonation verleiht der Erfinder des Soul Genreklassikern wie Hank Williams’ „You Win Again“ und „Hey, Good Lookin’“, „I Can’t Stop Loving You“ von Don Gibson und Floyd Tillmans „I Love You So Much It Hurts“ einen unwiderstehlichen Schmelz. Ein gebrochenes Herz klang nie besser als in Charles’ Version von Eddy Arnolds „You Don’t Know Me“.

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Dillard & Clark: „The Fantastic Expedition Of Dillard & Clark“

Der eine, Doug Dillard, hatte die Dillards verlassen, der andere, Gene Clark, ein zweites Mal die Byrds. Ihr erstes gemeinsames Abenteuer kann es 1968 mit den Werken ihrer Ex-Bands aus jener Zeit locker aufnehmen. Clark steuerte Melodie und Melancholie bei, Dillard Bluegrass und Harmonie. Gitarrist Bernie Leadon schrieb an sechs Songs mit, bevor er zu den Flying Burrito Brothers weiterzog. Den besten, „Train Leaves Here This Mornin’“, nahm er später mit zu den Eagles.

Bob Dylan: „Nashville Skyline“

Dies ist keine dieser coolen Americana-Platten mit tiefen Wurzeln im amerikanischen Song-Erbe wie „Music From Big Pink“ oder „Sweetheart Of The Rodeo“, sondern ein lupenreines Country-­Album mit allen üblichen lyrischen und musikalischen Klischees, inklusive einem Duett mit Johnny Cash und einem Instrumental­stück, das Dylan später mit Earl Scruggs und Söhnen im Wohnzimmer des Bluesgrass-Gotts spielte. Dylan’sche Dichtkunst war dafür auf diesem Album von 1967 nicht zu finden.

Mickey Newbury: „Frisco Mabel Joy“

Der Mann aus Texas hatte alles. Er war einer der besten Songwriter und Sänger des Genres und hatte ein feines Gespür für Atmosphäre und Arrangements. Die drei Alben, die er im Cinde­rella-Sound-Studio, der umgebauten Garage des Gitarristen Wayne Moss, aufnahm, gehören zu den Sternstunden des Genres. Das zweite, „Frisco Mabel Joy“ (1971), ist das schönste und eröffnet mit der sublimen Suite „An American Trilogy“, die Elvis Presley später in den Pathoshimmel heben sollte.

Jonathan Richman: „Jonathan Goes Country“

Die Country-Hommage des einstigen Protopunks von 1990 ist durchaus ernst gemeint, auch wenn Richman sich auf dem Cover als neuenglischer Snob gibt, der die Cowboystiefel nicht annehmen mag. Er singt Marty Robbins’ „Man Walks Among Us“, Ronee Blakleys „Rodeo Wind“ und den Tammy-­Wynette-Hit „Your Good Girl’s Gonna Go Bad“, spielt ab und zu mit den Stereotypen des Genres, und Tom Brumley, der einst zu Buck Owens’ Buckaroos gehörte, übernimmt die Steel-Guitar.

Fünf von Gunther Reinhardt

Taylor Swift: „Fearless“

Es klingt nach Country, riecht aber nach Pop. Es sollte zwar noch einige Jahre dauern, bis Taylor Swift sich in eine Discoqueen verwandelte, doch schon ihr zweites Album, das kurz vor ihrem 19. Geburtstag 2008 erschien, liebte das Crossover. Entzückend ging Swift in der Rolle des netten Mädchens von nebenan auf, das sich von Romeo-und-Julia-Verwicklungen („Love Story“), Highschool-Dramen („Fifteen“) und Trennungsschmerz („Forever & Always“) nicht unterkriegen lässt.

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Waylon Jennings: „Honky Tonk Heroes“

Auf diesem Album mischt Waylon Jennings 1973 Songs von Billy Joe Shaver nicht nur mit einer ordentlichen Portion Rock’n’Roll auf, er etabliert auch endgültig das Outlaw-Country-­Genre als Marke. Er spielt dabei den Landstreicher, singt in diesem knurrigen, herrlich verbraucht klingenden Bariton von „Old Five And Dimers (Like Me)“ oder „Willy The Wandering Gypsy And Me“ und macht den Titelsong zur Hymne auf „lovable losers and no-­account boozers and honky tonk heroes like me“.

Kris Kristofferson: „Kristofferson“

Auf dieser Platte singe der „schlechteste Sänger“, den er jemals gehört habe, behauptete Robert Christgau von „Village Voice“ damals. Zu rau, zu roh für Country-­Hörer von 1970 klang diese schwermütige Hippieplatte, auf der sich ein Songwriter sein eigenes Material zurückholte, das anderen schon Hits beschert hatte. Dass Kristoffersons Debüt trotz „Help Me Make It Through The Night“ und „Me And Bobby McGee“ zunächst kein kommerzieller Erfolg war, versteht sich von selbst.

Lyle Lovett: „Pontiac“

Angeblich genügte ­Lyle Lovett eine geschwänzte Geschichtsstunde, um „If I Had A Boat“ zu schreiben, einen Song, den er lange mit sich herumtrug und den er schließlich dazu erwählte, „Pontiac“ (1987), sein zweites Album, zu eröffnen. Das Lied taugt trotz der Fingerpickings und der ­Slide nicht wirklich zur Country-Nummer, sondern ist ein unverschämter Flirt mit dem Folk und dem Pop, der diesem Album den Ton vorgibt und Lovetts musikalischen Horizont gran­dios erweitert.

Kenny Rogers: „The Gambler“

Country-Experten verdrehen natürlich die Augen. Kenny Rogers? „The Gam­bler“? Ernsthaft? Der hat sich doch ans Fernsehen verkauft, erst in der „Muppet Show“ und dann als Hauptdarsteller in diesen unsäglichen „The Gambler“-­Filmen! Alles richtig. Und trotzdem oder gerade deshalb sind die Stimme, dieses Album von 1978 und Songs wie „The Gambler“ oder „She Believes In Me“ immer noch bestens geeignet, Menschen, die keinen Country mögen, sanft eines Besseren zu belehren.

Fünf von Sebastian Zabel

The Louvin Brothers: „Satan Is Real“

Die Brüder Ira und Charles Loudermilk meinten es ernst. Das mit Satan und der Hölle. Als Louvin Brothers waren die aus ärmsten Verhältnissen stammenden Südstaatenmusiker in den 50er-Jahren mit gottesfürchtigen Liedern erfolgreich. Doch unter der Kirchenbank tat sich stets ein Abgrund von Tragik auf, sei es die der prekären Verhältnisse oder die des gebrochenen Herzens. Ihr Harmoniegesang ist betörend, ihre Melodien finger­nagelschwarz und zucker­süß, das Cover legendär.

The Flying Burrito Brothers: „The Gilded Palace Of Sin“

Die Band von Gram Parsons und Chris Hillman trug ornamental bestickte Samtanzüge und versöhnte 1969 den psychedelischen Rock ihrer Zeit mit Bottleneck und Cowboy Ties. Sie sangen im Duett, coverten zwei Soul-Standards, und Sneeky Pete Kleinow schloss seine Steel Guitar an eine Fuzzbox an. Parsons nannte es „Cosmic American Music“. Was er mit den Byrds auf „Sweetheart Of The Rodeo“ begonnen hatte, ließ seine Band hier acht Meilen ­höher fliegen.

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The Dillards: „Wheatstraw Suite“

Mit ihrem 1968 veröffentlichten vierten Album elektrifizierten die Dillards den Bluegrass und brachten dem Country-Rock die Madolinen bei. Die Band hatte just einen Dillard, nämlich Doug, an Ex-Byrd Gene Clark verloren, der verbleibende Dillard, Rodney, fand in Herb Pedersen einen experimentierfreudigen Ersatz. Die ehemals traditionalistische Bluegrass-Combo machte sich zu neuen Ufern auf, coverte die Beatles und erweiterte ihren Stil zu etwas, das man später Americana nennen sollte.

Don Gibson: „Oh Lonesome Me“

Den Song, der zum Inventar des Country zählt, schrieb Gibson 1957, es wurde sein einziger Top-Ten-Hit jenseits der Country-Charts. Chet ­Atkins produzierte auch das Album in Nashville, das klassische Schmachter wie „I Can’t Stop Loving You“ und elegante Stomper wie „Blue, Blue Day“ enthält. Gibson war ein schüchterner Mann und ein verlässlicher Songschreiber, die Einsamkeit sein Thema. „Oh Lone­some Me“ war jedoch ein Schreibfehler der Label-Sekretärin, es hätte „Ole“ heißen sollen.

Jeb Loy Nichols: „Country Hustle“

Vermutlich die Platte in unserer kleinen Sammlung, die den Begriff Country am weitesten fasst (und Freunde der reinen Lehre zu heftigem Kopfschütteln provoziert).

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Nichols war Chef der Folk-Dub-Band Fellow Travellers und ist ein in Wales lebendes Landei aus Missouri, das die einzigartige Kunst beherrscht, Folk, Country und Reggae zu einer sanft groovenden Melange einzukochen – sein elftes und aktuellstes Album kreuzt sogar Country mit Disco. Ein unorthodoxes Vergnügen.

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