Kraftwerk 3D beim Lollapalooza 2018 in Berlin: Unheimliche Computerliebe
Mit einer perfektionistischen Multimedia-Show zeigen Kraftwerk ihren musikalischen Nachkommen, was sie der Band zu verdanken haben. Die kluge Inszenierung lässt aber auch Rückschlüsse auf die innere Dynamik des Kraftwerk-Systems zu.
Es ist natürlich eine verwegene Idee, Kraftwerk mit 3D-Einsatz als Rausschmeißer für eines der größten deutschen Festivals zu engagieren. Eine Band, die keine neuen Songs mehr veröffentlicht, sondern sich in einem einzigartigen Pop-Experiment vor den Augen ihrer Fans zu einem Kunstgegenstand fürs Museum verwandelt hat.
Für viele Schaulustige ist das Konzert von Kraftwerk auch deshalb ein Ereignis, weil die wenigen Auftritte, die die Musiker in den letzten Jahren an ausgewählten Orten gaben, in kürzester Zeit ausverkauft waren. An diesem herrlich schönen Spätsommerabend spielen sie, als hätten Ralf Hütter und seine Kollegen das so bestellt, direkt in den Sonnenuntergang hinein – für mehrere Tausend Menschen. Schimmerndes Neonlicht für den sich über den Olympiapark senkenden Abend.
Noch eben haben die kraftmeiernden Imagine Dragons ihre Grölereien auf der anderen Hauptbühne gespielt, der Sänger steht dazu halbnackt auf der Bühne. Ein sehr fleischlicher Bühnenroboter. Eine metallische Stimme kündigt für die nächsten Minuten nur wenige Meter weiter weg die „Mensch-Maschine“ an. Spielen Kraftwerk wie bei früheren Galerie-Gigs ein vollständiges Album durch? Vielleicht ein peinlicher Fehler der Perfektionisten, denn im Anschluss an die Ankündigung kommt „Computerwelt“, rauschen, nein: krachen die Stücke „Nummern“, „Computerwelt“, „It’s More Fun To Compute“, „Heimcomputer“ und „Computerliebe“ über das Publikum hinweg. Bevor dann doch „The Man-Machine“ alle Zweifel ausräumt.Kraftwerk folgen ihrer eigenen Maschinenlogik
Vor einigen Wochen erschien im britischen Comic-Magazin „VIZ“ ein Kraftwerk-Cartoon. Darin begegnet Ralf, Florian, Wolfgang und Karl auf ihrer 70er-Tour durch Frankreich ein Schmipanse mit merkwürdiger Frisur. Die Elektrohelden glauben, dass er für Versuchszwecke der Kosmetikindustrie missbraucht wurde. Das Quartett beschließt, der Sache nachzugehen. Als Schaufensterpuppen schmuggeln sie sich in die Fabrik und entdecken, dass an den Affen nicht Produkte auf ihre Wirkung gestetstet, sondern dass an ihnen lediglich neue Frisuren ausprobiert werden. Kurzerhand befreien sie die Tiere und adoptieren sie als Tanzpublikum für ihr nächstes Konzert in Marseille. Den anderen Zuschauern fällt der Unterschied kaum auf.
Es stimmt ja: Kraftwerk machen sich über die Erwartungen ihrer Fans auch ein wenig lustig. Die zuhörende Masse gehört zur Inszenierung dazu. Wenn schon auf dem Podium der Einzelne nichts zählt, die Künstler hinter ihrem Kunstwerk verschwinden, dann gilt dies erst recht auch für das Individuum im Bühnengraben. Die Menge delektiert als Menge. In einem kaum bewusst werdenden alchemistischen Prozess mutieren Musiker UND Auditorium zu Robotern. Wann je wird man wieder so viele Menschen auf einem Festival mit einer lächerlichen Plastikbrille auf der Nase konzentriert auf eine Leinwand hinter ein paar Tontüftlern schauen sehen?
Die dreidimensionalen Effekte der Show sind natürlich nur Gimmick. Zahlen schwimmen vor den Augen, die Raumstation ISS gleitet zu den Menschen und ein Ufo landet vor dem Olympiastadion. Die Besucher johlen. Für „Das Modell“ (die Zuschauerreaktion verrät: immer noch der größte und im Grunde ja auch der einzige Hit der Band) gibt es Bilder aus der Varieté-Vergangenheit, auch „Tour de France“ spielt mit Archivmaterial. Kraftwerk betreiben ihr nostalgisches Spiel mit Raffinesse. Die Animationen für „Trans Europa Express“ und vor allem „Autobahn“, die von geradezu behäbiger kinetischer Energie zeugen, deuten gleichsam Fortschritt und Rückschritt an. Man hätte bessere Animationen bekommen können, aber Kraftwerk verorten sich visuell mit voller Absicht als Vorreiter in einer Zeit, in der Taschencomputer nur Zukunftsmusik waren und Tinder mit Bildschirmtext am Fernseher funktionierte.Wo ist die hintersinnige Schwermut hin?
Die Lieder aus dem Katalog, aus allen Phasen der selbstgewählten offiziellen Kling-Klang-Produktion, sind natürlich für die EDM-Crowd aufgeplustert. Das Fiepsen, Klinkern, Scharren und Scheppern dringt in die Körper ein, doch manche Songs verlieren mit dieser martialischen Um- und Neudeutung auch an Wirkung. „Computerliebe“ zeugte einmal von sanfter Wehmut im Angesicht der postmodernen Liebeskatastrophe. Von dieser Wehmut ist nichts mehr zu spüren. Auch die schon 1974 befremdlich anheimelnde Melodie von „Autobahn“ verliert ihren melancholischen Subtext und bekommt stattdessen eine unheimliche Dringlichkeit. Vor diesen Kunstmobilen auf dem Schirm, die so beängstigend modellhaft durch eine Polygon-Kunstlandschaft düsen, sollte man Angst haben. Vielleicht eine der vielen versteckten Botschaften der Band an ihre Anhänger: Eure Welt ist an Computerbildschirmen, am digitalen Reißbrett entstanden. Eine Utopie aus Bits und Bytes, die eben nur die Vergangenheit und die modellhafte Zukunft berechnen konnte. Von der Gegenwart aber blieben zu wenige gesicherte Informationen.
Ganz anders kommt „Radioaktivität“ daher. Es ist ganz sicher Kraftwerks bezwingendster Song während dieses makellosen Auftritts. 1975, als das Stück entstand, zeugte es noch von zaghafter Begeisterung für die ewige Sicherung des Energiehaushalts. Doch Hütter und Co. waren immer schon sehr gut darin, das eigene Material immer dann entscheidend zu bearbeiten, wenn der Zeitgeist gegen sie anzukämpfen drohte. Nun ist „Radioaktivität“ eine Gänsehaut und vor allem Angst erregende Anklage gegen Tschernobyl, Fukushima und Hiroshima (auch wenn kaum auffällt, dass die Verrechnung von Atombombengewalt und friedlicher, aber im Strahlenfiasko endender Atomenergie natürlich windschief ist). Ein Ungetüm von einem Elektrotrack, spannungsgeladen mit „Geigerzähler“ vorbereitet.
Man könnte noch hinzufügen, dass mit dem live aufgeführten Best Of des eigenen Katalogs natürlich auch deutlich wird, dass es eben doch einen Qualitätsunterschied zwischen den einzelnen Platten der Gruppe gibt, bei dem das Spätwerk deutlich zurückbleibt. Während zur Zugabe „Die Roboter“ auf der Bühne stehen und ihren steifen Ewigkeitstanz aufführen, wird mit dem comichaften „Boing Boom Tschak“ und dem in allen Belangen scheußlichen „Techno Pop“ deutlich, dass Kraftwerk Mitte der 80er von all jenen eingeholt wurden, die sie einst beeinflussten und nun selbst wie Epigonen erschienen.Immerhin liefert „Music Non Stop“ zum Abschluss dieses kraftvollen Konzerts für einen sehr kurzen, fast intimen Moment den Eindruck, dass Kraftwerk – also die auf der Bühne stehenden „Operators“ Hütter, Hilpert, Schmitz, Grieffenhagen – doch improvisieren können. Einer nach dem nächsten verlässt die Bühne, verbeugt sich und gibt dem anderen die Möglichkeit, das eigene Mischpult nach Herzenslust zu bedienen. Dass einzig Ralf Hütter, das in jeder Hinsicht letzte verblieben Kraftwerk, als einziger noch Melodien statt metallischer Beats in die Dunkelheit der Berliner Nacht schwingen lässt, spricht Bände.