Zum Tod von Meisterregisseur Nicolas Roeg: Im Sog der Leidenschaften
Mit assoziativen Bildmontagen wie in „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ und „Der Mann, der vom Himmel fiel“ wurde Nicolas Roeg zurecht berühmt. Doch seine anspruchsvollen Filme müssen von jeder Generation neu entdeckt werden. Nun - nach seinem Tod - erst recht.
Nicolas Roeg war immer ein Außenseiter des Kinos geblieben. Fast könnte man sagen, dass er diesen Platz ganz bewusst verteidigt hatte vor den (allerdings spärlichen) Versuchen, ihn zum Klassiker des experimentellen Kinos zu erheben. In fast allen seinen Filmen porträtierte er ganz buchstäblich Außerirdische, Verstoßene, dem Höllensumpf der Gesellschaft entflohene Sonderlinge, die dem Ruf der Wildnis auf Gedeih und Verderb verfallen sind und zwanghaft nach ihrer Identität suchen.
Natürlich kennt die ganze Welt „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973), der im englischen Original so wundervoll wie weltabgewandt „Don’t Look Now“ heißt. Eine inzwischen kultisch verehrte und gespenstische Meditation über den sechsten Sinn und das Trauern in der pathetischen Kulisse von Venedig. Wie der von Donald Sutherland gespielte Seher John Baxter auf einer Gondel auf dem Canal Grande seine Frau als trauernde Witwe an sich vorbeifahren sieht, geht einem genauso wenig mehr aus dem Kopf wie die berüchtigte Bettszene, in der die beiden Hauptfiguren sich innig lieben und zugleich wieder ankleiden. Überhaupt bleiben vor allem einzelne Szenen aus den Filmen des Regisseurs in Erinnerung, weil sie so virtuos inszeniert sind und für sich stehen, als seien sie das eigentliche Kunstwerk darin und nicht nur Einstellungen unter vielen.Schockierende Bilder, kühne Gedanken
Es waren vor allem Parallelmontagen, für die Roeg so penetrant kämpfte. Mit surrealistischem Eifer kreuzte er Eros und Thanatos, geradezu unwirklich in der Sci-Fi-Kapitalismuskritik „Der Mann, der vom Himmel fiel“ (1976), brillant gar in „Black Out“ (1980). In der dunklen Amour Fou sezierte Roeg die Beziehung eines zynischen Intellektuellen (Art Garfunkel) zu einem leichtlebigen jungen Mädchen (Theresa Russell, nur Tage nach dem Dreh Roegs zweite Ehefrau) in Wien. „Bad Timing“ heißt der Film entlarvend im Original – und er enthielt solch ein schockierendes Ende, dass der Verleiher den Film am liebsten im Giftschrank versteckt hätte. In jeder einzelnen Szene schwebt der Geist von Mahler, Freud, Jung, Klimt und Schiele. Genies und Perverse.
Natürlich waren diese unheilvollen Szenen auch Zufallsprodukte, die der 1928 in London geborene Regisseur im Schneideraum erarbeitete. Aber dieser Zufall war gewollt und gesucht. Roeg hatte zwar als Kameramann und Lichtsetzer in den 50ern angefangen (und unter anderem die Wüstenszenen in „Lawrence von Arabien“ photographiert), doch seine Leidenschaft galt stets der intelligenten, sich nahezu verselbstständigenden assoziativen Montage.
Im postmodernen, von den Swinging Sixties berauschten Gangsterfilm „Performance“ (1970) übte der Brite noch. „Walkabout“ trug hingegen schon alle Züge eines typischen Roeg-Films: der Hang zur Mystik, die Tendenz zur wüsten Kritik an der Zivilisation, die Sehnsucht nach ursprünglichen, traumähnlichen Bildern von in jeder Hinsicht entblößten Menschen. Ein nahezu ethnologischer Australienfilm mit spirituellen Untertönen und den grässlichsten Suizid-Sequenzen, die sich vorstellen lassen. Schönheit und Schrecken finden in Roegs Kabinettstücken stets furchtlos zueinander. Manchmal dräuen dazu sogar die Klänge von John Barry.
Unstillbare Experimentierlust
Mit Musikern wie Mick Jagger, David Bowie und Art Garfunkel arbeitete Roeg schon deshalb besonders gerne zusammen, weil sie ihm gleich ein Image mitlieferten, das er nach eigenen Vorstellungen auseinander schneiden und neu zusammensetzen konnte. Was die Zuschauer nur erahnten, war harte Arbeit – denn Roeg zeigte seine Stars so, wie sie niemand mehr als einen Film lang ertragen wollte: ihrer Aura beraubt. Und immer wieder drehte er mit seiner großen Liebe, Theresa Russell. Sie erschien auf der Leinwand abwechselnd als Femme Fatale und Femme Fragile. Tosende Sinnlichkeit, auch ruppig wie in „Eureka“ (1983), als sie ihrem Goldschürfer-Vater (gespielt von Gene Hackman) ans Leder will.
Erotik spielte stets eine große Rolle in diesem filmischen Werk von niemals zu stillender Experimentierlust, selbst noch seinem letzten Film, dem von feministischer Theorie benebelten Thriller „Puffball“ (2007). Nackte Leiber bildete Roeg wie in Tanzaufführungen ab, so elegant wie von allen Inszenierungsgeboten Hollywoods entkoppelt. Sexszenen dienten niemals als Lustzone für den Zuschauer. Eher sind sie als chaotische Versuchsanordnung zu verstehen, um den Figuren näher zu kommen – natürlich auch auf einer einsamen Insel wie in „Cast Away“. Kopulation als Kommunikation.Die verquaste Robinsonade mit einem vom Testosteron gebeutelten, wie ein Gorilla auftretenden Oliver Reed läutete 1987 allerdings auch das von Verirrungen geleitete und viel zu lange Spätwerk des Regisseurs ein, das mit „Insinificance – Die verflixte Nacht“ (1985) und „Track 29 – Ein gefährliches Spiel“ (1988) immerhin zwei (Meta-)Filme bereit hält, die heute weitaus frischer erscheinen als zu ihrer Entstehungszeit. Allerdings finden sich auch einige irrelevante TV-Auftragsproduktionen, die niemand je wieder zu sehen bekommen wird.
Das Publikum ignorierte Roeg, Kritiker hassten ihn
Fünf kraftvolle Meisterwerke am Stück zwischen 1970 und 1983 („Performance“, „Walkabout“, „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, „Der Mann, der vom Himmel fiel“, „Blackout – Anatomie einer Leidenschaft“ und „Eureka“), allesamt getragen von furchtlosen intellektuellen Gedankensprüngen, noch am ehesten vergleichbar mit den Filmen Michaelangelo Antonionis, reichten, um zur Legende zu werden. Und doch blieb kaum ein Roeg-Film länger in den Kinos. Stets gab es Diskussionen mit Zensoren und Produzenten. Die Kritiker verstanden seine „kranken Geschichten“ nicht oder mäkelten an Roegs Hang zum offenen Kunstwerk herum.
Seine Themen suchte er ähnlich wie seine exzentrischen englischen Kollegen Ken Russell und Peter Greenaway vor allem im unerschöpflichen Reservoir obsessiver Stoffe. Verbotene Leidenschaften, die unter seiner Regie ganz und gar unbritisch inszeniert daherkamen. Wer allerdings 1990 auf die Idee kam, Roeg mit der Verfilmung von „Hexen hexen“ des britischen Kinderbuchautors und Nationalheiligen Roald Dahl zu betrauen, mag entweder verrückt gewesen sein, oder von dem Wunsch beseelt, den hintergründigen schwarzen Humor Dahls endlich adäquat für die Leinwand zu adaptieren.
Natürlich hasste Dahl den Film wie kein zweiter, wünschte ihn am liebsten in der Themse versenkt. Doch Roeg holte aus dem schmalen Büchlein, das nicht zu den besten des Schriftstellers zählt, alle notwendigen Ingredienzien heraus, um sein nun deutlich jüngeres Publikum stark zu beunruhigen (das Mädchen im Gemälde, die Hexenversammlung!) und mit abenteuerlichen Verfolgungsjagden bestens zu unterhalten.Irgendwann wurde es freilich ruhig um Nicolas Roeg. Und auch wenn es genügend Verehrer gibt, nun nach seinem Tod hoffentlich noch einige mehr – der glühendste unter ihnen dürfte wohl Regisseur und Essayist Dominik Graf sein –, ließ sich seine erschöpfende Suche nach ästhetischen Verwirrspielen doch nie einer Schule oder einem Genre zuordnen. Sie alle stehen, roh und funkelnd, für sich und warten darauf, stets neu erobert zu werden.
Am 23. November 2018 ist Nicolas Roeg im Alter von 90 Jahren gestorben.
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