Was Stanley Kubrick zum (vielleicht) größten Film-Regisseur machte
Zum 25. Todestag: Gedanken über den ersten und letzten Perfektionisten des Weltkinos.
In der sehr persönlichen Dokumentation „Stanley Kubrick: A Life In Pictures“ sagt „Shining“-Star Jack Nicholson über seinen Regisseur: „Praktisch jeder wusste, dass er einfach der Beste ist – und ich finde, das ist noch eine Untertreibung.“
Stanley Kubrick hat sich mit nur 13 Spielfilmen in 46 Jahren einen unvergleichlichen Ruf erarbeitet. Kein Nekrolog nach seinem Tod am 07. März 1999 (etwa eine Woche nach der ersten Vorführung der letzten Schnittfassung von „Eyes Wide Shut“) blieb ohne Erwähnung seines Perfektionismus, der ihn manchmal dazu trieb, Szenen unzählige Male zu wiederholen und Mitarbeiter in den Wahnsinn zu treiben. Kubrick mischte sich überall ein, diktierte sogar die Bedingungen für die Übersetzung in anderen Ländern. Sein Drang, alles perfekt zu gestalten war – wie zahlreiche Interviews seiner Darsteller und Mitarbeiter bestätigen – für viele am Set auch eine große Belastung.
Stanley Kubrick verließ sich stets auf seinen Instinkt
Dennoch arbeiteten die meisten von ihnen gerne mit dem am 26. Juli 1928 in New York geborenen Kubrick zusammen; viele von ihnen, wie Filmarchitekt Ken Adam, Kostümdesignerin Milena Canonero, trans Musikerin Wendy Carlos oder Darsteller Peter Sellers, sogar mehrfach. Der humorbegabte und selbstbewusste Sellers war, was die Schauspielerbesetzung angeht, vielleicht auch eine der wenigen Ausnahmen. Oft suchte sich der Regisseur für jedes neue Projekt die passenden Darsteller zusammen – nach Kriterien, die nicht einmal sein Studio kannte. Manche forderte er bis zur Erschöpfung, andere, wie Jack Nicholson in „Shining“ oder R. Lee Ermey in „Full Metal Jacket“, ließ er einfach machen. Mit unvergesslichem Ergebnis. Aber häufig auch zum Argwohn anderer Setkollegen.
Sein Instinkt verließ ihn dabei nie: Für „2001 – Odyssee im Weltraum“ verzichtete Kubrick bewusst auf ein bekanntes Gesicht, weil er wusste, dass die Größe der Bilder und die technische Vision hinter dem Sci-Fi-Meisterwerk alles überstrahlen würden. „Barry Lyndon“ benötigte zwingend einen Weltstar (Ryan O’Neal), damit der Zuschauer in einer Geschichte, die bewusst auf Identifikationspotentiale verzichtet, jemandem zusehen konnte, dem zu vertrauen war. Also einem „Love Story“-Gesicht. „Eyes Wide Shut“ bezog seine Würze hingegen daraus, dass das Paar nun einmal auch im wahren Leben ein beliebtes Hollywood Couple war. Nur Monate nach dem Kinostart trennten sich Tom Cruise und Nicole Kidman voneinander. Bis heute gibt es das Gerücht, dass der Dreh mit Kubrick daran nicht unschuldig war.
Malcolm McDowell, dem mit seiner Hauptrolle in „Uhrwerk Orange“ der internationale Durchbruch gelang, schwärmte von der innigen Beziehung mit dem Regisseur während der Dreharbeiten. Der Familienmensch Kubrick behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn. Zugleich betrauerte er aber, dass dieser nach Abschluss der Produktion den Kontakt rigoros einstellte. Jahrzehnte später gab McDowell zu Protokoll, dass Kubrick seine Schauspieler im Grunde egal gewesen seien, auch wenn dessen eigene Regie-Karriere wohl anders verlaufen wäre, wenn ihm nicht ein gewisser Kirk Douglas den Dreh von „Wege zum Ruhm“ ermöglicht hätte. Aber natürlich waren McDowells Worte auch die Abrechnung eines Enttäuschten, der mehr Traurigkeit als Verbitterung zu entnehmen war.
Meister der Kollision von Bildern und Musik
Vielmehr zählte für Kubrick tatsächlich das audiovisuelle Erlebnis, der inszenatorische Aufwand und die Größe seiner oft beispiellos gebliebenen Bilderzählungen. Und groß, vielleicht sogar unangreifbar sind fast alle seine Filme spätestens seit „Lolita“. Mit jedem weiteren Werk – Kubrick benötigte alsbald immer empfindlichere, weitere Zeitabstände, um seine Filme ins Kino zu bringen; zwischen „Full Metal Jacket“ und „Eyes Wide Shut“ vergingen sogar ganze 12 Jahre – versuchte sich der privat stets bescheiden gebliebene und zurückgezogen lebende Regisseur daran, die Maßstäbe filmischer Genres mindestens zu erweitern, wenn nicht für die Ewigkeit zu beeinflussen.
Jeder Science-Fiction-Film muss sich nun zwangsläufig an „2001 – Odyssee im Weltraum“ messen lassen. Gleiches gilt für Historien- („Barry Lyndon“) Kriegs- („Wege zum Ruhm“, „Full Metal Jacket“) und Horrorfilme („Shining“). Nur mit dem Versuch, ein zeitloses Ehedrama über die von der unkontrollierbaren Begierde gefährdete Ehe zu drehen („Eyes Wide Shut“), scheiterte Kubrick.. Zumindest im ehrlichen Vergleich mit der nuancierten Vorlage von Arthur Schnitzler, die in einen völlig anderen gesellschaftshistorischen Kontext eingebettet ist und daher eine ganz andere Wirkungsmacht entfaltet. Ausgerechnet seine Ehefrau hatte ihm deswegen auch lange von dem Projekt abgeraten. War Kubrick der Zeitgeist in den letzten Tagen seiner künstlerischen Karriere enteilt? Nicht ganz. Ein ähnliches Schicksal erlitt der Filmemacher mit „Lolita“. Die Adaption genügte zwar den Ansprüchen des Publikums. Aber der ambitionierten Weltliteraturvorlage konnte sie nicht gerecht werden, wie Kubrick selbst zerknirscht zugab.
Kubrick durfte machen, was er wollte
Was viele für die glückliche Produktion eines Jahrhundertgenies hielten, war laut Kubrick harte Recherchearbeit: Kaum ein Projekt, das nicht von ihm und seinem Stab akribisch vorbereitet wurde. Besucher der durch die Welt tingelnden Kubrick-Ausstellung staunten nicht schlecht über den Holzkasten, in dem er Tausende vollgeschriebene Karteikarten zur Produktion des dann doch nicht umgesetzten „Napoleon“-Films sammelte. Kubrick war ein manischer Detailarbeiter.
Anders als viele Kollegen hinter der Kamera verzichtete er ganz bewusst auf eine eigene filmische Handschrift. Aber Kubrick war auch ein Besessener des Kinos, kannte nahezu jeden Film und wusste sogar noch für Städte, in denen er gar nicht verkehrte, Bescheid, wo welche Produktion im Lichtspielhaus lief. Er wühlte sich, manchmal auch pietätlos, hinein in die Tiefen einer Person, eines Autors oder eben einer künstlerischen Gattung. Kubricks Filme sind einzigartig standfest und gleichsam brillant durchdachte Spiegelungen all der von ihm mit Argusaugen beobachteten Höchstleistungen der Künste – nicht nur des 20. Jahrhunderts.
Ab den 60er-Jahren war nur das Beste für Kubrick auch gut genug. Und sein Studio, Warner Bros., gab ihm für all seine Wünsche und Vorstellungen eine carte blanche. Kubrick durfte machen, was er wollte. Er hatte den Final Cut.
Auch deshalb gelang es dem eigensinnigen Filmemacher, der in jungen Jahren als Straßenfotograf gelernt hatte, wie man der Welt ins Gesicht blicken muss, um sie niederringen zu können, Misserfolge stets zu vermeiden. Sein Mantra: Es ist nicht wichtig, ob man Erfolg hat. Aber man muss Niederlagen vermeiden, denn sie führen dazu, dass man in Zukunft möglicherweise keine Chance mehr bekommt, etwas zu erreichen.
Geschickt verfolgte Kubrick die ausgelegten Fährten seiner Zeit: „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ antwortete mit sarkastischem Humor auf die drohende Vernichtung durch eine Atombombe im immer heißer werdenden Kalten Krieg, „2001 – Odyssee im Weltraum“ richtete sich mit seinen spektakulären, zuweilen psychedelisch anmutenden Spezialeffekten auch an die mit LSD experimentierende Hippie-Generation, und „Uhrwerk Orange“ kommentierte mit satirischer Schärfe den Psychologie-Boom der beginnenden 70er-Jahre. Doch allen seinen Filmen verpasste er eine eigentümliche Zeitlosigkeit. Weil Kubrick den von Woche zu Woche sich ändernden Hypes stets misstraute. Und die Techniken und Erzählweisen des Kinos verstand wie kein anderer. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass er sie auch bewusst gegen sein Publikum einsetzte, um sie wie ein Hypnotiseur zu manipulieren.
Genau beobachtet
Wenngleich der Regisseur auch am liebsten alle Kopien seines Erstlings „Fear And Desire“ (ein Titel, der all die Themen seiner späteren Filme ideal zusammenfasst) für immer auf dem Scheiterhaufen verbrannt gesehen hätte, zeigen doch vor allem die vom Film Noir geprägten ersten Filme – darunter wohl am eindrücklichsten der geschickt montierte Kriminalfilm „Die Rechnung ging nicht auf“ – wie sich Kubrick in jungen Jahren mit viel Geduld an den Bildern abarbeitete, die eh schon im Kino zu sehen gewesen waren. Er war auch ein kluger Bilderplünderer, der sich nicht so leicht in die Karten schauen ließ.
Nach dem ersten großen Achtungserfolg mit „Wege zum Ruhm“ kam mit dem Auftragswerk „Spartacus“ im Jahr 1960 dann der erste Rückschlag, der den jungen Künstler aufrührte. Alles war bis zum letzten Kostümstück durchgeplant, Spielraum für Änderungen gab es schlicht keine. Dann zerstümmelte das Studio die überlange Schlussversion. Kubrick entschied sich, in Zukunft nur noch Filme unter seinen Bedingungen zu machen.
Dafür wies er sogar ein Drehbuch in die Schranken, das er von Wladimir Nabokov höchstpersönlich für „Lolita“ erhalten hatte. Mehr als 300 Seiten. Kubricks Urteil: zu lang, untauglich für die große Leinwand. Natürlich war Nabokov beleidigt. Doch Kubricks geschickter Schachzug, aus dem nicht nur für die beginnenden 60er-Jahre brisanten Stoff endgültig eine schwarze Komödie zu machen, war goldrichtig.
Skepsis und Satire
Überhaupt ist der satirische Humor, der sich durch eigentlich alle Filme Kubricks wie ein roter Faden zieht, auch heute, 25 Jahre nach seinem Tod, noch unterschätzt. Der Regisseur gerierte sich mit eigentlich all seinen Werken (mit Abstrichen gilt dies auch für seine Fotografien) als Zivilisationskritiker. Der Mensch schien ihm mit seinem Hang zum Größenwahn und zur Kolportage, aber auch wegen seiner Abhängigkeit von Schmeichelei und Zuneigung, wie eine bittersüße Mischung.
Seine Geschichten entstammten nach „Lolita“ stets einer literarischen Vorlage, die Kubrick nach seiner Façon veränderte. Stephen King konnte ein Lied davon singen. Er konnte nichts an der Filmadaption von „Shining“ aus dem Jahr 1980 finden, ließ später sogar eine (im Vergleich enttäuschend hölzerne) TV-Fassung aus seinem Buch machen. Aber es sind eben die satirischen Elemente, zu finden selbst noch in „2001 – Odyssee im Weltraum“, die Kubricks Filmen Gültigkeit und bei aller philosophischer Härte Luft verschaffen.
Mit jüdischem Witz weist er in „Eyes Wide Shut“ das von dem eigenen Zwang zur Geltung gebeutelte männliche Geschlecht zurecht. In „Full Metal Jacket“ wird der Drill eines Armeeausbilders derart überzogen, dass das Kriegsgeschehen selbst zur Witznummer verblasst. Das muss man erst einmal wagen. Andere Klassiker des Genres, wie „Apocalypse Now“, gingen genau den anderen Weg. In „Uhrwerk Orange“ verwandelte Kubrick den Kinosaal ironisch zum Umerziehungslager, in dem einem gewalttätigen, zynischen Jüngling – konfrontiert mit Bildern aus der Hölle – jedes Gefühl ausgetrieben wird. Das Kino schaut sich selbst bei der dämonischen Arbeit zu.
Macht des Zufalls
Boshafteste Note all seiner Filme: Immer wieder pflügt der Zufall alle Pläne um, seien sie aus reinem Herzen gefasst oder von Grausamkeit angetrieben. In „Die Rechnung ging nicht auf“ fegt der Hauch eines lächerlichen Windstoßes einen gewitzten Verbrecherplan hinfort. Humbert Humbert könnte endlich seine Lolita in den Armen halten, nachdem er seinen Widersacher ums Eck gebracht hat. Doch das einst flüchtig begehrende und hitzig begehrte Mädchen ist zum pampigen Hausmütterchen gereift. Barry Lyndon gelingt der Weg an die gesellschaftliche Adelsspitze, doch noch bevor wir seinem tristen Fall zusehen dürfen, kommentiert der Erzähler, dass ihm das Glück, eine Errungenschaft auch zu halten, schlicht nicht zukomme. Dafür macht der weise Sprecher auch den wankelmütigen Charakter Barrys verantwortlich.
Man könnte diese Reihe ewig fortsetzen. Solche Pointen deuten am ehesten darauf hin, dass Kubrick mit aller Kraft versuchte, sein mitunter erschreckendes, immer aber skeptisches Weltbild auf den Zuschauer zu übertragen. Die Essayistin Susan Sontag fragte vielleicht ganz zurecht, ob dies wirklich eine anerkennenswerte Methode eines Künstlers sein kann, den Augenzeugen drastischer Kinofantasien keine Möglichkeit zu geben, sich einen eigenen Reim darauf zu machen. „2001 – Odyssee im Weltraum“ bezeichnete sie deshalb auch als einen totalitären Film.
Filme, die unmittelbar ins Unterbewusstsein eindringen
Diese Argumentation ließe sich aber natürlich auch umdrehen: Kubricks Methode war das Schöpfen „nonverbale Erlebnisse“, wie er über seinen wichtigsten, besten Film einmal sagte. Ein Erlebnis also, „das mit emotionalem und philosophischem Inhalt unmittelbar in das Unterbewusstsein eindringt.“ Dafür bediente er sich mit sehr viel Eigensinnigkeit und einem schamlosen Hang zur Besserwisserei bei Literatur, Fotografie, Theater, Oper, bildender Kunst und bei Erkenntnissen der Wissenschaft und Philosophie. Er gebrauchte Gedanken und Verfertigtes nach seinen eigenen Vorstellungen, ohne Rücksicht auf ihre Identität und historische Grundlage zu nehmen. Jeder seiner Filme entwickelte deshalb einen Sog, weil sie vor hintergründig eingearbeiteten kulturellen Erfahrungen nahezu platzten. Anders ausgedrückt: Kubrick-Filme sind ein Angriff aufs Unbewusste und eine fast heimtückische Aufforderung, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Ein radikales Kino der Eindrücke.
Ganz gewiss lässt sich die Geschichte des Kinos in eine Zeit vor und eine nach Kubrick einteilen. Für eigentlich alle Regisseure nach Kubrick gilt: Sie haben gute Ideen und auch die richtigen Leute, um sie umzusetzen. Aber ihnen fehlt der Monolith.
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