Ulrich Seidl: Erforscher gesellschaftlicher Sumpfgebiete
Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl provoziert seit Jahrzehnten mit Bildern über menschliche Abgründe. Eine üppige Retrospektive-Box versammelt sein schonungsloses und kunstvolles Gesamtwerk.
Natürlich ist Ulrich Seidl ein Provokateur. Aber er ist es nicht, weil er eine Frau mit einem Kruzifix masturbieren lässt oder Menschen dabei beobachtet, wie sie mit ihren Vierbeinern mehr als nur Essen und Bett teilen. Der österreichische Regisseur, der so etwas wie schmutzig-perverse Haneke-Doubles dreht, nimmt vielmehr in seinen dokumentarischen Spielfilmen und teilinszenierten Dokumentationen ungeniert die Rolle des entlarvenden Voyeurs ein, der menschliche Gelüste, vor allem aber ihre seelischen Abgründe mit hyperrealistischen Tableaus in einem Schaukasten ausstellt.
Manche haben Seidl deshalb, vor allem in seiner Heimat, einen Nestbeschmutzer genannt oder heftig kritisiert, dass der Regisseur seine oftmals von Laien gespielten Figuren in ihrer körperlichen und geistigen Beschränktheit vorführen würde. Das Urteil lautete dann „Depressions-Pornographie“ – und seine Filmschule warf ihn, als er mit seinem Kurzfilm „Der Ball“ einen kleinen Skandal ausgelöst hatte, einfach raus. Es ist deshalb ein kleines Wunder, dass sich dieser selbsterklärte Moralist mit seiner Vision eines messerscharfen filmischen Beobachtens im europäischen Gegenwartskino eine herausragende Stellung erobert hat.Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit
Wer sich auf mehr als nur einen Film des Aufklärers Seidl einlässt, bekommt einen guten Eindruck davon, dass es ihm vor allem darum geht, den Menschen in seiner transzendentalen Obdachlosigkeit und seiner Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit zu zeigen. Eine mustergültig ausgestattete Retrospektive-Box, die jeden seiner Spielfilme, Dokus, Kurzfilme, Interviews und sogar Werbeclips auf insgesamt 18 DVDs inklusive einem äußerst lesenswerten Büchlein versammelt, bietet den idealen Anlass, sich von Ulrich Seidls oft gnadenlosen Spiel mit gesellschaftlichen Sumpfgebieten schockieren oder erhellen zu lassen.
Selbstverständlich sind all die tragikomischen Meisterwerke dabei, die „Paradies“-Trilogie, „Import/Export“ (der vielleicht kunstvollste Seidl-Film!) – auch die etwas kalkulierten neueren Dokumentationen „Im Keller“ und „Safari“. Filme von einsamen Menschen, die vergnügungssüchtig ihrer eigenen Tristesse entkommen wollen. Aber auch Seidls obsessive Betrachtung des Katholizismus wird rekapituliert: „Jesus, du weißt“ ist ein filmgewordener Beichtstuhl, der Menschen beim Kirchgang und erschreckend narzisstischen Gebeten zeigt.
Der Mann, das arme Schwein
In Zeiten politischer Korrektheit irritieren zudem Seidls Betrachtungen von Männern, die sich in ihren Zwangsvorstellungen („Der Busenfreund“) und regressiven Sehnsüchten („Die letzten Männer“) eingerichtet haben. Den größten Gewinn aber versprechen verschollen geglaubte Entdeckungen wie Seidls erster Langfilm „Good News“ (der ohne Werner Herzogs Unterstützung nie entstanden wäre) und die bisher kaum beachteten Dokumentationen „Einsvierzig“, „Spaß ohne Grenzen“ und „Bilder einer Ausstellung“.Ein Gesamtwerk von außergewöhnlicher künstlerischer Willenskraft und stilistischer Kohärenz.
- Streaming-Tipp: Noch bis 02. Mai ist via arte die Seidl-Doku „Safari“ im kostenlosen Stream zu sehen.
Ein Beitrag aus „Movies“ 01/2017
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