„Manchester By The Sea“ ist reif für den Oscar
Kenneth Lonergan hat mit „Manchester By The Sea“ ein weiteres Meisterwerk gedreht, das ihn als Großen in Hollywood etablieren wird.

„Ich bin ein Kind der gehobenen Mittelschicht, Central Park West, Manhattan“, erzählt Kenneth Lonergan. „Meine Eltern haben ein Ferienhaus am See, zwölf Autostunden nördlich von New York, an der Grenze zu Kanada. Seit meinem achten Lebensjahr habe ich jeden Sommer dort verbracht.“ Das ist Lonergans Antwort auf die Frage, wie er als Broadway-Autor, Intellektueller und Psychiatersohn auf die Idee kam, seinen neuen Film in einem provinziellen Arbeitermilieu an der Atlantikküste Neuenglands spielen zu lassen, im titelgebenden Manchester-by-the-Sea in Massachusetts nämlich.
Traumatischer Vorfall in der Vergangenheit
Lonergans Protagonist, Lee (Casey Affleck), arbeitet zu Beginn des Films als Hausmeister in einem Bostoner Apartmentkomplex. Wir sehen seinen Alltag: sein kleines Zimmer, das wie eine Gefängniszelle anmutet, die Mieter, die ihm lästige, jenseits seines Zuständigkeitsbereichs liegende Arbeiten aufhalsen, das Schneeschaufeln, das abendliche, einsame Barbesäufnis. Eine an ihm interessierte Frau ignoriert er, aber die Anzugträger auf der anderen Seite der Theke provoziert er zu einer Schlägerei. Ein wütender, unergründlicher Mann.
Dann ein Anruf von zu Hause, aus Manchester-by-the-Sea. Sein Bruder ist gestorben. Er muss zurück in seinen Heimatort, zum ersten Mal seit langer Zeit. Er muss sich um Dinge kümmern, um die man sich nach einem Trauerfall eben kümmern muss. Was passiert mit dem Boot seines Bruders? Aus welchem Holz soll der Sarg sein? Wo soll die Leiche gekühlt werden, bis es wieder Frühling wird? Denn noch ist Winter und der gefrorene Friedhofsboden zu hart, um aufgegraben zu werden. Vor allem aber: Wer kümmert sich nun um Patrick (Lucas Hedges), den 16-jährigen Sohn des Verstorbenen? In Rückblenden erfahren wir zudem von einem traumatischen Vorfall, der sich vor einigen Jahren in Manchester ereignete und den Lee nun, nach seiner überraschenden Rückkehr, nicht länger verdrängen kann.
Diese Art Geschichte ist nicht neu, aber sie ist gut, und Lonergan erzählt sie meisterhaft. Die Vielschichtigkeit und Lebensnähe seiner Figuren ist beachtlich. „Wer mit so begabten Schauspielern wie Casey Affleck und Michelle Williams (die Lees Exfrau spielt) zusammenarbeitet, muss als Regisseur nicht mehr viel tun“, sagt er, und das stimmt natürlich nicht. Er erläutert es gleich selbst: „Ich ermutige meine Schauspieler dazu, sich auszuprobieren; sie sollen sich frei fühlen und sich frei bewegen, aber nur innerhalb der Dialoge, die ich geschrieben habe. Wenn es eine Stelle geben sollte, die nicht funktioniert, dann denke ich mir am Set neue Dialogzeilen aus. Improvisation vonseiten der Schauspieler, sofern sie verbal ist, gehört nicht zu meinem Arbeitsprozess. Ich halte mich an das Drehbuch wie an ein fertiges Theaterstück.“
Erinnerungen an Robert Altman
Lonergan hat zermürbende Jahre hinter sich. Nachdem seine Filmkarriere zunächst so vielversprechend begonnen hatte – nach dem Broadway-Erfolg seines ersten Theaterstücks half Martin Scorsese mit der Finanzierung des schließlich oscarnominierten Filmdebüts, „You Can Count On Me“ (2000) –, entwickelte sich die Arbeit an seinem Zweitwerk, „Margaret“, zu einer kräftezehrenden Tortur, die fast das Ende seiner Künstlerlaufbahn bedeutete. Weil Lonergan ein gut dreistündiges episches Drama vorschwebte, das Studio Fox Searchlight aber auf einer leichter verdaulichen Laufzeit bestand, kam der 2005 gedrehte Film erst sechs Jahre Rechtsstreit später in die Kinos, und zwar in einer vom Regisseur nicht autorisierten Fassung, die von der Kritik dann verrissen und vom Publikum ignoriert wurde. (Der Director’s Cut erschien schließlich auf DVD und wurde sofort als Meisterwerk gefeiert.)