Phänomen „Stranger Things“: Ja, so sahen die 80er-Jahre aus – grandios ist die Serie deshalb aber nicht
Detailtreue allein reicht nicht: "Stranger Things" scheitert an seiner dünnen Story.
Aktuell wird in der „Internet Movie Database“ (IMDb) zu „Stranger Things“ zirka jede fünfte Minute, also alle 300 Sekunden, ein neues Foren-Thema eröffnet. Keine Serie wird derzeit so heiß diskutiert wie der Achtteiler von Netflix. In den meisten Beiträgen – einige tragen allerdings auch die Überschrift „I Can’t Stand Winona Ryder“ – geht es um eine ganz bestimmte Frage. Werden die 80er-Jahre originalgetreu abgebildet? Oder vielmehr: Fühlt sich „Stranger Things“ an wie eine Serie aus den Achtzigern?
Bei den Diskussionen mischen vor allem User über 40 mit, also solche, die in den 80er-Jahren ihre Kindheit verbracht hatten. Natürlich gucken auch Jüngere „Stranger Things“. Viele Leute, die in dem wohl beliebtesten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts erst geboren wurden und ab den Neunzigern dann ein bewusstes Erleben des Zeitgeists entwickelten. Einige Menschen über 40 sagen, „genau so waren die Achtziger!“, andere in den 70er-Jahren Geborene bestreiten das. Die ab 1980 Geborenen wiederum freuen sich überwiegend am Retro-Schick. An Trucker-Käppis, Walkie-Talkies, Ski-Jacken, am „Dungeons & Dragons“-Spiel, BMX-Rädern und dem Lando-Calrissian-Namecheck.
„Diese Show ist wie eine Parallelwelt, eine stilisierte, idealisierte Wiederauferstehung der Achtziger“, schreibt ein User ohne Altersangabe, der aber, so wie die meisten im Thread, ein Amerikaner ist. Dann schreibt er: „Weiße Jungs hingen damals nicht mit schwarzen Jungs ab, hatten keine Poster von John Carpenter an ihren Schlafzimmerwänden, trugen keine Ski-Jacken oder Truckermützen.“ Und außerdem habe man damals nicht den „Herrn der Ringe“ toll gefunden, sondern sich ein Atari-Spielgerät gewünscht.
Nun, vielleicht sind im „Stranger Things“-Bereich auch einfach viele Trolle und Parodisten unterwegs. Das Message Board von „The Walking Dead“ etwa quillt seit Staffel fünf schlicht über vor lauter Clown-Beiträgen, deren schiere Anzahl richtige Diskussionswünsche überdecken.
Die heiligen vier Wände des Kinderzimmers
Ein nächster „Stranger Things“-Zuschauer klettert mutig auf eine Meta-Ebene. „Diese Serie versucht nicht das Leben in den 80ern nachzustellen. Sie imitiert den Stil von Filmen, die in den 80ern gedreht wurden.“ Puh. Andere wiederum versteifen sich, man kennt es aus vielen Foren, in trotzigen Bei-mir-war-das-aber-durchaus-so-Positionen. „Ich aber hatte Poster von ‚Halloween’, ‚E.T’ und „Star Wars’“ bei mir hängen“.
Tatsächlich gelingt es „Stranger Things“ sehr gut jenen Raum nachzugestalten, der in damaligen Filmen wohl immer am detailgenauesten ausgestattet wurde: das Kinderzimmer eines zukünftigen Geeks. Wer „Poltergeist“ von 1982 gesehen hat, weiß, wie wichtig all die Film-Poster, „Star Wars“-Spielzeuge und Puppen für die Atmosphäre sind, die sich innerhalb der für Kids heiligen vier Wände abspielt. Auch der Partykeller von „Stranger Things“ sieht so toll verlebt aus, als hätten fünf Kinder darin seit Jahren getobt.
Jedem sei seine eigene Kindheit gegönnt. Aber falls es in amerikanischen Filmen und Serien der 1980er wenig schwarze Kids zu sehen gab, wie „E.T.“, den „Explorers“ oder „Goonies“, dann lag das wahrscheinlich nicht daran, dass weiße Kids mit ihnen nichts hätten zu tun haben wollen. Sondern daran, dass die Produzenten in ihrer Welt glaubten, Filme besser auf ein weißes Zielpublikum zuschneiden zu können, wenn man Afroamerikaner weglässt (und dann war in den „Goonies“, dem Klischee entsprechend, der Technikfreak Data ein Asiate).
Von allem zu viel
Eines der Probleme von „Stranger Things“ ist womöglich, dass es von allem zu viel gibt. Eine eigene Handschrift setzt sich nicht durch. Typografie im Vorspann? Von den Stephen-King-Verfilmungen „Christine“ und „Cujo“ übernommen. Der Score? Wie Musik von John Carpenter – dessen elektronischer Stil eben derart einzigartig war, dass in den 80er-Jahren keiner wagte ihn zu kopieren. Die Schneeflocken in der Parallelwelt? Könnte aus Ridley Scotts „Legende“ stammen. Das offizielle Serienplakat – wie von Drew „Indiana Jones“ Struzan gemalt. Und nochmal Stephen King: Die Story um ein telekinetisch begabtes Kind, das bei jedem Einsatz seiner Kräfte Nasenbluten bekommt, in Ohnmacht fällt und außerdem von einer halbstaatlichen Behörde gejagt wird? Kennen wir aus Roman und Film „Firestarter“.
Die beste Reminiszenz ist vielleicht noch der Serientitel an sich: „Stranger Things“. Das klingt nach vagem Geheimnis, coolem Understatement, so wie die von Spielberg erdachten, aber leider nie für seine Filme benutzten Namen „Out Of The Dark“ und „Night Skies“. Alte Geisterschule à la „Twilight Zone“, als namenloses Grauen noch schockte.
Jede Generation hat das Recht Popkultur, und sei sie noch so alt, neu zu entdecken. Da sollten die Älteren nicht meckern und „Kenne ich doch längst!“ rufen. Will keiner hören, damit macht man sich nur lächerlich. Jahrzehnte gehören ja keinem. Zumal die Macher von „Stranger Things“, die „Duffer Brothers“ (Matt und Ross – keiner kennt sie, aber sogleich einen Namen als Trademark etabliert, nicht schlecht) mit offenen Karten spielen und alle ihre Hommagen stolz selbst benennen.
Wären Hommagen nicht erlaubt, wären die Grenzen schnell abgesteckt. Dann dürfte man heute keine Filme mehr drehen, die in den 70er-Jahren spielen und sich auch so anfühlen sollen (Shane Blacks „Nice Guys“), oder in den 50ern spielen und sich auch so anfühlen sollen (Spielbergs „Bridge Of Spies“).
Keiner braucht das Monster
„Stranger Things“ baut gegen Ende der acht Folgen ab, weil die Macher sich nicht mehr wirklich zwischen Horror und der Erzählung einer Kinderfreundschaft entscheiden konnten. Zum Showdown hin passiert dann alles viel zu schnell (IMDb-User-Meinung zu den Gründen für die zum Teil wie Abkürzungen wirkenden Entwicklungen, ganz lakonisch: „Budget“). Was die Serie noch mit ihrem größten Vorbild, „E.T.“, gemein hat, ist der Versuch, von der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit zweier ungleicher Freunde zu erzählen. Sowohl E.T. und Elliott, als auch Mike und „Elfi“, einte die Vernachlässigung und Einsamkeit im Elternhaus. Sie sind nur noch gemeinsam stark.
Das junge Alien „E.T.“ wurde auf der Erde zurückgelassen, Elliott ist ein Scheidungskind; „Elfi“ wurde von ihrem Vater (Matthew Modine mit Koteletten, typischer 70er-Berkeley-Hippie-Doc, der jetzt einen Anzug trägt, klasse) für PSI-Experimente missbraucht. Mikes Vater wiederum scheint, auch das eine Art Vernachlässigung seines Sohns, überhaupt nichts mitzukriegen – selbst dann nicht, als die Häscher vom Hawkins-Institut sein Haus auseinandernehmen um nach Mike zu suchen. Als Motiv reicht der Kampf um Anerkennung für „Stranger Things“ also eigentlich aus.
Und um Spannung aufrecht zu erhalten, hätte die Jagd der Wissenschaftler nach dem PSI-Kind genügt. Da fliegen Transporter durch die Luft und werden Zeugen erschossen. Als hätten die „Duffer Brothers“ aber ihrer kleinen Liebesgeschichte zwischen Mike und Elfi nicht vertraut, musste eine eigene Herausforderung für die drei Jungen Mike, Dustin und Lucas her. Deshalb suchen sie nach ihrem entführten Freund Will, den der „Demagorgon“ entführt hat, das Monster aus einer anderen Dimension. In den abschließenden Episoden sieben und acht dreht sich doch arg vieles um die CGI-Kreatur mit ihrem Carpenter-artigen Blütenmaul. Auch dieses Geschöpf erzielt, wie eigentlich alle Geschöpfe aus allen Computern, keine erschreckende Wirkung, weil es nicht plastisch wirkt.
Ok, Computer
Das ist die vielleicht größte Ironie und der Grund, warum „Stranger Things“ dann zumindest stilistisch keine vollends gelungene Widmung an die 80er-Jahre geworden ist. In jenem Jahrzehnt arbeitete man, notgedrungen, aber recht wirksam, mit Masken und Puppen. „Nah dran, aber nicht perfekt“-Eindrücke von Illusionen nahmen Effekt-interessierte Zuschauer immer ohne Probleme in Kauf.
Bezeichnend, dass in der Serie der Moment größten Horrors nicht mit dem eigenen Monster Demagorgon zu tun hat, sondern mit der unvermittelten Einspielung von Carpenters „Ding“, das dort im Fernsehen ausgestrahlt wird. Der Kopf des „Dings“ trennt sich von einem toten Körper ab, wir sehen grüne Schleimfäden und viel Blubber. Ein Lehrer in der Serie erklärt enthusiastisch, dass man mit brennenden Kaugummis die Effekte hergestellt habe.
Falls „Stranger Things“ eine „stilisierte, idealisierte Wiederauferstehung der Achtziger“ hätte sein sollen, haben die Macher, wie auch zuletzt trotz großer Ankündigungen der Regisseur J.J. Abrams für seinen „Star Wars“-Film, letzten Endes doch vor der aktuellen Trick-Schule kapituliert. Die Trickser aus Hollywood verkabeln heute keine Bausätze im Liegen mehr, sie sitzen mit krummen Rücken vorm Rechner. CGI-Effekte sind zwar nicht unbedingt billiger – aber sie bieten einfacher herzustellende Illusionen. O.K., Computer.
Freitag, 13 Uhr, neuer Beitrag im „Stranger Things“-Thread der IMDb, Überschrift: „Ein BMX-Rad mit Bananensattel?“. Text: „Ein Junge würde eher ohne Sattel fahren als damit! Wie alt sind diese Brüder, die die Serie erschaffen haben?“. Für weiteren Diskussionsstoff dürfte „Stranger Things“ bis zur bereits angekündigten zweiten Staffel also allemal sorgen.
Etwaige Spoiler in diesem Text bitten wir nachträglich zu verzeihen. Die Netflix-Methode, alle Folgen einer Staffel sofort zur Verfügung zu stellen, macht einem manchmal halt den Job schwer. Wann ist der Zeitpunkt erreicht, bei dem nicht nur Bingewatcher, sondern auch alle anderen alle Episoden gesehen haben?