Unfrieds Urteil: Houellebecq, Erdogan und das bedrohte Europa

Nizza, IS-Terror, Erdogan: Michel Houellebecq hat in seinem jüngsten Roman eine Lösung für die Krise zwischen der offenen Gesellschaft und der islamischen Welt beschrieben – Unterwerfung. Was kann man als Linksliberaler tun, wenn man das nicht will und Salonschwadronieren auch nicht hilft?

Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat in seinem jüngsten Roman eine Lösung für die Krise zwischen dem Westen und der islamischen Welt beschrieben: Unterwerfung. Sein Frankreich des Jahres 2022 wählt einen (gemäßigten, wie man so sagt) muslimischen Präsidenten und konvertiert zum Islam. Das ist kein Vorschlag, sondern seine satirisch zugespitzte Analyse der Verfasstheit der europäischen Gesellschaften. Vor allem derer, die dort für progressive Werte eintreten, also linksliberales Bürgertum, seine Politiker und Medien. Sie sind schwach, saturiert und moralisch am Ende. Erschöpft schlüpfen sie in der autoritären neuen Gesellschaft unter, bei der die Rechten längst mitmischen, weil sie ihre antiaufklärerischen Ziele darin viel besser umsetzen können als im halblebigen Christentum.

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Nun ist Houellebecq, mal abgesehen von der Marke, die er sehr erfolgreich verkörpert, ein Dichter, der seine beachtliche Schaffenskraft aus der Distanz zu der Welt bezieht und diese Distanz in Ekel bemisst. In seiner Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo inszeniert er gerade seine künstlerische Wahrheit: das ist der industrielle und zivilisatorische Niedergang Europas.

Die entscheidende Frage ist jetzt nicht, ob man diese Position teilt, sondern was man tun kann, wenn man sie nicht teilt. Der Terror von Nizza am Nationalfeiertag ist der dritte nach den Charlie-Hebdo-Morden und dem Massenmord am 13. November vergangenen Jahres in Paris, der im Namen des sogenannten Islamischen Staates allein in Frankreich verübt wurde.

Die Exegeten im immer schiefer nach rechts hängenden „FAZ“-Herausgeberturm haben sofort einen Zusammenhang mit Einwanderung und globaler Flüchtlingssituation konstruiert. „Wer zornige junge Männer aus der islamischen Welt in großer Zahl aufnimmt, muss wissen, dass einige von ihnen den Tod (mit-)bringen können“, behauptet Berthold Kohler. Auch ein simpler Leitartikler einer Regionalzeitung schreibt gern und fast automatisch als erstes über eine wechselseitige Beziehung von „weit offenen Grenzen“ und der Schwierigkeit, sich zu schützen. Tenor: Da seht ihr, was passiert, wenn zu viele fremde Leute den heiligen deutschen oder europäischen Boden betreten.

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Als würde das den IS an der Rekrutierung hindern. Dass die nicht an Landesgrenzen gestoppt wird oder mit Einschränkung der Bürgerrechte, sieht man nicht nur an Nizza. Die Attentäter sind in der Regel nicht eingeschleust oder Flüchtlinge.

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Das Problem ist, dass die freien westeuropäischen Gesellschaften großartige Errungenschaften zu verbuchen haben, aber eben auch nicht so großartige. Es wäre ideologisch zu sagen, dass sie selbst zornige junge Männer produzieren, die in autoritäre, demokratiefeindliche Gruppierungen abdriften. Wahr ist, dass es diese jungen Männer gibt, die sich komplett ausgeschlossen fühlen und das ideelle Teilhabeversprechen einer islamistischen oder völkischen Bewegung als Erlösung von ihrem Leid betrachten und als Aufstieg vom letzten Arsch zur Elite.

Islam-Faschisten und Völkisch-Bewegte sind keine Gegenpole

Die perverse Ironie der Gegenwart besteht darin, dass die islamistischen Faschisten und die neuen völkischen Bewegungen sich als Gegenpole verstehen und damit den Hassanteil in der Welt kontinuierlich steigern, aber beide an der Überwindung der liberalen Gesellschaft und ihren emanzipatorischen Errungenschaften arbeiten, angefangen mit der Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen.

Was macht in dieser Situation der Linksliberale, wenn er sich nicht in sein Schicksal fügen will wie von Houellebecq skizziert? Die Schlechtigkeit der Welt, aber vor allem auch des Westens beklagen? Die EU anklagen, dass Menschen im Meer ersaufen? Die Verantwortungskette auflisten, die zum Syrienkrieg geführt hat und dazu dass der IS Teile von Syrien und Irak besetzt hat – unter gleichzeitigem Insistieren auf den eigenen Pazifismus? Und wenn einer sagt, man müsse den Krieg beenden, also dafür Krieg führen, ist die höchste Pflicht des guten Linksliberalen ihn als „Kriegstreiber“ zu beschimpfen, dem es doch wieder nur um das Böse geht.

Das kann man alles machen. Wenn man die Lage in Syrien analysiert, die Gründe für den Aufstieg des IS und die komplett verfahrene Lage, wird man immer auf den Irak-Krieg der USA und die desaströse Nahostpolitik des Westens kommen. Nur: Kriegstreibergewissheiten helfen nichts.
Die Frage lautet, was das kleinste von vielen Übeln ist und die Antwort könnte sein, dass man eine große Koalition zusammenbringt, die den IS militärisch besiegt. Als Erstes für die geschundenen Menschen in Syrien und im Irak. Aber dann auch, um die Strahlkraft dieser Globalterroristen herunterzudimmen. Die territoriale Terrorherrschaft und die Aura des Unbesiegten ist Teil der Faszination, die aus gekränkten Subjekten im Westen irre Massenmörder macht. Das ist psychologisch für viele Linksliberale das Schwierigste: Denn nie waren die Beweise stärker, als heute, dass der Westen tatsächlich Kriegstreiber war.

Der zweite Punkt ist, dass die Tatsache der globalen Migration in den Gesellschaften Kerneuropas nicht verhandelbar ist. Dafür braucht es eine Mehrheit in der Mitte der Gesellschaft, die sich gegen illusionäre völkische Wahnideen und reaktionäre Leitartikler durchsetzt.
Dabei braucht es allerdings auch Europäer, die dem Wahn widerstehen –der das Vereinigte Königreich erfasst hatte – nationale Abkapselung sei ein Ausweg aus der Komplexität und gegenseitigen Abhängigkeit.

Es geht nicht mit Erdogan – und auch nicht ohne ihn

Es geht also um zweierlei: Mit dem alten Moralkanon von 1968ff. wird man die politischen Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lindern können. Mit dem gemütlichen Altdenken einer Spaltung der Gesellschaft in mittelinks und mitterechts wird man den tatsächlichen Graben nicht zuschütten können. Der verläuft zwischen denen, die die Errungenschafts-Gesellschaft überwinden wollen, einschließlich Sahra Wagenknecht. Und denen, die sie reformieren wollen und dadurch bewahren. Das gilt in besonderem Maße für die Europäische Union: Sie wird von links und rechts mit altem und neuen Nationalismus bedroht. Es braucht neue gesellschaftliche Allianzen, die für den Erhalt kämpfen. Und da wird es keine Rolle spielen, ob man mit der CSU oder den Grünen sympathisiert.

Alles wird immer komplexer – und von Erdogan und der Türkei haben wir da noch gar nicht gesprochen. Er wird jetzt erst richtig loslesadsadsdasadgen, und es geht überhaupt nicht mit ihm. Aber es geht auch nicht ohne ihn. Und irgendwie muss es ja weitergehen. Also wird es darum gehen, das Schlimmste abzuwenden. Dazu muss man ihm etwas geben, was er unbedingt will (für seine Wirtschaftsinteressen), um dafür etwas rausverhandeln zu können (für die Menschen).

Schön ist das nicht, aber Realität. Es schlägt jetzt die Stunde der entschlossenen Realisten, um gegen Terroristen, Populisten und Illusionisten die offene Gesellschaft zusammenzuhalten.

Die Pointe bei Houellebecq besteht ja übrigens darin, dass die matt daherschwadronierende Gesellschaft ihre Errungenschaften kampflos aufgibt und sowohl Sozialisten, als auch konservative Partei beim islamischen Staat mit Theokratie, Patriarchat und Polygamie als Kollaborateure schön brav mitmachen.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de

VALERY HACHE AFP/Getty Images
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