Glaube, Liebe, Hoffnung (28) – Jeder tut, was er kann, keiner tut, was er muss
Eine Bilanz des verdienten deutschen Halbfinal-Aus - EM-Blog, Folge 28
„Die Wunden des Geistes heilen, ohne dass Narben bleiben.“
Hegel
„Genuss ist etwas, was in Deutschland immer als Sünde betrachtet wurde. Er teilt das Schicksal mit dem Wort Luxus. Beides sind für deutsche Begriffe Sünden, sind Schwächen des Volkes, der Nation. Eine Nation, die dem Genuss huldigt und den Luxus nicht verurteilt, ist zum Untergang verurteilt. Das sind römische Zustände, das führt zu decadence und was weiß ich. Das ist so das gängige Vorurteil der Deutschen.“
Wolfram Siebeck
Vergangene Woche waren sie plötzlich wieder da, und dann ganz besonders gestern, an und um die Hauptbahnhöfe der Republik: Die Mädels in schwarzweißen deutschen Fußballtrikots.
Ein bisschen spät finde ich. Diese Begeisterung war spürbar nicht da durch die EM, durch das deutsche Spiel schon gar nicht, sondern durch den schnöden Erfolg der Halbfinal-Qualifikation und durch den Hass auf Angstgegner Italien. Es war der Versuch, das Sommermärchen zu reloaden, und weil es ein Instantversuch war, ist er jetzt nach der Niederlage auch verpufft wie ein Souffle aus der Dose.+++
Vielleicht ist das auch ganz gut so. Vielleicht muss Deutschland ja nicht auch noch Europameister werden, nachdem man schon Weltmeister ist. Und nachdem man den Europäer schon mit wirtschaftlichem Klassenpromis-Gehabe und politischer Schulmeisterei auf die Nerven geht, ist es doch schön, dass unsere Freunde aus Frankreich mal in etwas besser sind, als „wir“. Die Franzosen haben sich in jedem Spiel gesteigert. Schön für Griezmann, dass er es war der den Elfmeter gegen Neuer versenken durfte. Hoch lebe die Deutsch-Französische Freundschaft!
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Nach der Niederlage gegen Frankreich begann postwendend das Gerede, man sei die bessere Mannschaft gewesen. Die Deutschen hätten ein „Klasse-Spiel gemacht“ und „klar dominiert“, behauptete Joachim Löw, Torwart Manuel Neuer meinte, dass das 0:2 „natürlich kein faires Ergebnis“ sei, und Toni Kroos hatte „das beste Spiel“ der Deutschen bei dieser EM gesehen.
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„Manchmal verliert man und manchmal gewinnen die anderen.“ (Otto Rehhagel)
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Warum sind die Deutschen immer so schlechte Verlierer? Warum können sie nicht einfach mal sagen: Frankreich hat gewonnen, aus Basta. Stattdessen wird jetzt gezählt: 67.9 zu 32.1% Ballbesitz, 643 Pässe zu 302 Pässen, 6 – 5 Ecken, 4-0 Abseits. Alles Schwachsinn. Denn 4-0 mal Abseits bedeutet ja nur, dass die französische Abseitsfalle offenbar viermal so gut funktioniert hat, wie die deutsche, und dass die Franzosen schlau genug waren, nicht ins Abseits zu laufen. Und als ob man das mit dem Ballbesitz nicht vorher gewusst hatte, da die Deutschen nun mal Ballbesitzfußball spielen, die Franzosen gerade nicht. Natürlich spielt man mit mehr Ballbesitz und mehr Kurzpassspiel auch mehr Pässe als der Gegner. Und kein Wunder, dass über kurze Strecken die Zuspielquote sehr hoch ist. Die Franzosen haben stattdessen zugeschaut und auf Fehler gewartet. Die gab es dann auch. Und schreiben wir doch mal dazu, dass Frankreich mehr Zweikämpfe gewonnen hat.
Zudem: Was bringt der Ballbesitz wenn die Kugel nur belanglos hin- und hergeschoben wird, ein Querpass auf den nächsten folgt? Wenn kein Stürmer da ist, der den Ball verwandeln kann? Spanien hat auch verloren trotz über 60 % Ballbesitz – dann lästert ganz Deutschland über Tiki-Taka, und dass das jetzt tot sei. Und Island hat Spiele gewonnen, wo sie nur ca. 30 % Ballbesitz hatten, da jubeln dann alle über den süßen Underdog.
Diese ganzen Rechnungen sind schon deswegen bescheuert, weil sie schlechte Laune machen. Davon angesehen steht später in den Geschichtsbüchern nur: Frankreich – Deutschland 2:0 im Halbfinale.
Trotzdem ist es in Deutschland immer gleich: Wenn sie im Elfmeterschießen gegen Italien mit Ach und Krach weiterkommen, nur weil die Italiener noch schrottigere Elfmeterschützen sind, als die Deutschen, dann war es ein Super-Spiel. Wenn sie 0:2 gegen Frankreich verlieren, dann war es der Schiedsrichter, die UEFA, der Gastgeber, das Wetter, die Regierung, die Flüchtlinge, die Lehrer, die Eltern, die Angestellten, praktisch die ganze Welt. Die Anderen sind immer Schuld! Und immer haben die Deutschen „dominiert“ und „überlegen gespielt“.
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Man muss ja eher die Frage stellen warum die Franzosen aus diesen Zahlen einen Sieg mit zwei Toren Unterschied machen können? Aber da greift dann die Verschwörungstheorie: Mit der schwarz-rot-gelben Brille auf der Nase empört sich das Volk in den Foren über den italienischen Schiedsrichter, weil er Italiener war, und sich angeblich für das Viertfinalaus mit einer „Pizza Endsatione“ gerächt habe. Er soll jetzt daran Schuld sein, dass „la Mannschaft“ rausgeflogen ist, – wie billig ist das denn? Es ist übrigens derselbe Schiedsrichter, der beim WM-Finale ein klares – und brutales – Foul von Neuer an Higuain nicht geahndet hatte.
Wer kein Tor schießt kann auch nicht gewinnen, ob mit oder ohne Schiedsrichter. Der Elfmeter gegen Deutschland war voll und ganz berechtigt. Strafraum, Arme oben und nicht am Körper = Elfmeter! So einfach ist das. Denn wenn in Zukunft erlaubt sein soll, was Schweinsteiger wagte, den Ball wie ein Volleyballspieler abzublocken, dann wird es keine Kopfballtore mehr geben. Beim 2:0 hat die komplette Abwehr geschlafen.
Davon abgesehen, muss man einen Elfmeter auch erstmal verwandeln – das wissen die Herren Schweinsteiger, Müller und Özil ja auch genau.
Natürlich findet sich trotzdem jetzt auch noch ein Schiedsrichter in Rente, der einen Tag später in allen deutschen Medien den Pfiff „unverständlich“ findet.
Am unangenehmsten ist diese befremdliche Anspruchshaltung, nach der Deutschland ein Titel quasi zusteht.
Jahrelang klagt übrigens keiner über den „Bayern-Dusel“, und die vielen Robben-Schwalben, die der Hälfte das Nationalmannschaft schon unverdiente Titel und Siege beschert haben, zuletzt im Spiel des FC Bayern gegen Juventus.
Hinzu kommt noch die ganze Litanei über Verletzungen… Gomez, Khedira (und dann noch Boateng) waren verletzt. Hummels gesperrt! Alles Alibis. Die wären nur glaubhaft, wenn man nach dem „heroischen“ Elfmeterschießen-Sieg gegen Italien mal angedeutet hat, dass Italien das Viertelfinale ohne die Stammspieler DeRossi (verletzt), Candreva (verletzt) und Thiago Motta (gesperrt) bestreiten musste, und dass Marchisio, Verratti und Montolivo zur EM gar nicht mitfahren konnten.
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Die Italiener sind immer Schuld: Der Schiedsrichter, die Squadra, weil sich die armen Deutschen anstrengen mussten und ausgepowert waren. Seit Jahren sollen die Italiener in Deutschland bei Turnieren Deutschland die Daumen drücken. Aber dann die ganze Häme gegen Italien im Netz. Jetzt heulen alle und suchen Schuldige. Die Italiener dagegen waren wenigstens stolze Verlierer.
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Auch wenn es jetzt keiner gern hört: Deutschland war im Halbfinale gegen Frankreich die schlechtere Mannschaft. Nach 20 Minuten war schon klar, dass diese blinde Anrennerei der deutschen vor allem heiße Luft war. Sieben Tore in sechs Spielen gegen nicht meist zweitklassige Gegner war auch nicht gerade toll. Wer keine Stürmer ausbildet, die vorhandenen nicht mitnimmt und einen Müller auch als Totalausfall nicht auswechselt, braucht sich nicht zu wundern. Die Deutschen haben bis zu den Italienern keine wirklichen Gegner gehabt. Italien hätte auch schon das Aus bedeuten können. Nur in ihrer Großkotzigkeit sind die Deutschen Europameister.
Was wir auf dem Platz gesehen haben, war endloses Taktieren, Mauern, unattraktiver Fußball. Eine null motivierte Mannschaft aus zu vielen ausgebrannten Stars von Gestern, die im Verein nicht spielen dürfen. Falsche Kaderzusammenstellung. Zuviel Verteidigung, zuviele Verletzte und Verletzungsanfällige. Feigheit in der Vorrunde, „keine Experimente“ (Konrad Adenauer) das Motto war. Schweinsteiger war vor allem eine tragische Figur, mit schuld an beiden Toren. Sané brachte in den paar Einsatzminuten mehr als Götze im kompletten Turnier.
Wo sind die Erben von Gerd Müller, Dieter Müller, Rummenigge, Völler, Fischer, Klinsmann, Klose? Aus der ehemaligen Stürmer-Nation Deutschland ist längst ein Land ohne Angreifer geworden. Ein Land ohne Außenverteidiger.
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Immerhin muss keiner darben. Die 23 deutschen EM-Fußballer erhalten nämlich für das Halbfinal-Aus ein Urlaubsgeld von jeweils 100.000 Euro. Noch mehr Geld gibt es für den Deutschen Fußballbund. Der kassiert nämlich 18,5 Millionen Euro an Prämien von der UEFA. Es gibt nämlich schon eine EM-Startprämie von 8 Millionen, je eine pro Sieg in der Gruppenphase, sowie die Hälfte für das Unentschieden gegen Polen. sowie für die Achtelfinalqualifikation weitere 1,5 Millionen. Fürs Viertelfinale 2,5, für das Halbfinale 4 Millionen.
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Es ist gut, dass diese deutsche Mannschaft nicht Europameister geworden ist. Denn im sonstigen Leben will man doch auch nicht kaltes Effizienzdenken, Hässlichkeit und Personalabbau. Man will Genuß. Und gerade im Fußball, der – immer noch und jetzt erst recht – schönsten Nebensache (!) der Welt, sollte es doch um Glamour und Überschuß gehen.
Ausgerechnet am Tag des Halbfinales starb der große Wolfram Siebeck. Er war viel mehr als ein Esskritiker und Gastropapst, den viele Nachrufe jetzt aus ihm machen. Er war ein universaler Kulturkritiker.
Von Siebeck, der übrigens als Filmkritiker begonnen hatte, konnte man mehr lernen, als dass es beim Essen nicht ums Sattwerden und Gesund-bleiben geht, und wie die Nudeln al dente werden. Er war vor allem ein Kritiker der deutschen Genussfeindlichkeit. Insofern hatte Siebeck der ganzen deutschen Kultur und auch dem Fußball etwas zu sagen.
Siebeck hatte etwas gegen die Aversion gegen Verfeinerung. Siebeck war bekennend frankophil, elitär und arrogant; er war ein Snob und er war cool. Siebeck war als Autor und Kulturkritiker so, wie die Italiener, die Spanier, die Franzosen und die Portugiesen Fußball spielen.
Darum lässt sich seine unbarmherzige Nörgelei auch auf den Fußball übertragen. Denn wer nicht kritisch ist, lässt sich alles aufschwatzen. Und genau das passiert regelmäßig mit den Deutschen beim Fußball. Hauptsache gewonnen, dann ist das Spiel gut gewesen. Und wer dann noch den Bundestrainer kritisiert, oder Nationalheld Schweinsteiger, der ist ein vaterlandsloser Geselle.