Glaube, Liebe, Hoffnung (17): Die Kapitulation der roten Furie

Italien gewinnt im heimlichen Finale, Spanien muss sich schämen und neu erfinden - EM-Blog, Folge 17

„Das Wirkliche ist vernünftig.“

G.W.F. Hegel

Wahrscheinlich sind am Ende die bescheuerten Auswärtstrikots der Spanier schuld. Beim Spiel gegen Italien stellte neben mir ein zugegeben nicht sehr fußballaffines Girl beim ersten Blick auf den Bildschirm die Frage: „Oh, blutet der?“ Tat er nicht, hätte aber sein können.
Jedenfalls sind auf diesem Trikot vom Rotgelb der kastilischen Königsflagge nur noch ein paar kleine, diffus geformte Flecken übrig, der Rest ist Weiß. Es war nicht das Weiß der Unschuld, sondern das der Kapitulation. In diesem Trikot verlor der Europameister beide Spiele bei der EM und schied schmachvoll im Achtelfinale aus.

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Man kann erkennen, dass die Spanier mit Niederlagen überhaupt nicht umgehen können. Während dies nach der 1:5-Katastrophe im Auftaktspiel bei der WM in Brasilien noch verständlich war, und irgendwie zugleich als Betriebsunfall abgetan werden konnte, gibt es nach den beiden Niederlagen der Spanier keine Entschuldigungen mehr. War das 1:2 gegen Kroatien noch dummes Pech gegen Ende, hatte es doch auch seine höhere Notwendigkeit: Denn nach dem Höhenflug der Jahre 2008 bis 2012 musste ein Tal kommen. Nur dass es sich jetzt tiefer herausstellt als gedacht. Zuviel alte Spieler, den naheliegenden Vorwurf, kann man den Spaniern nicht machen. Denn die italienischen Sieger sind noch älter. Und bei den Italienern sind gerade die Alten die Stützen: Der 38-jährige Torwart Buffon, der 37-jährige Barzagli, der 32-jährige De Rossi, die 31-jährigen Pellé, Chiellini und Giaccherini.
Während bei den Spaniern zwar Ramos gegen Kroatien den unverdienten Elfer verschoß, aber Iniesta, Silva und Nolito zu den Besten der Mannschaft gehörten, während die Jüngeren die größten Schwächen zeigten: Erschreckend schwach etwa der unverständlicherweise eingesetzte 25-jährige Torwart David de Gea. Schon gegen Kroatien war er am entscheidenden 1:2 Schuld, und gegen Italien faustete er Ball direkt vor die Füße von Chiellini. Und der völlig über Gebühr gefeierte Morata versemmelte die wenigen Chancen, die ihm die Italiener gaben.

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Eigentlich war schon in den ersten Minuten zu sehen, was die Stunde geschlagen hatte. Die Spanier zeigten Abwehrschwächen, waren aber gut im Spiel nach vorne. Dort allerdings dominierte die Fixierung auf Nolito, der nicht seinen besten Tag erwischt hatte.

Die Italiener kamen früh sehr direkt nach vorn, spielen immer wieder auf die tolle No. 8 (Florenzi vom AS Rom) erspielten früh großartige Chancen im Zweiminutentakt: 6., 8., und 10. Minute (ein spektakulärer Pfostenschuss per Fallrückzieher, der als „gefährliches Spiel“ im Erfolgsfall nicht gegolten hätte – da hatte Spanien einfach nur Glück, und hätte sich über einen Zweitore-Rückstand nicht beklagen dürfen.

Die Italiener überraschten den Gegner wie die meisten Experten mit sehr offensivem, temporeichen Spiel, sie ließen die Spanier von Beginn an gar nicht in ihren Rhythmus eintreten, und erspielten sich ein nicht nur optisches Übergewicht. Von wegen „kommen lassen.“

Der Führungstreffer fiel dann gerade in einem Augenblick, als sich die Spanier ein wenig aus der Umklammerung gelöst und wenigstens zu entlastenden Gegenstößen gefunden hatten. Er kam daher überraschend und zu einem für die Spanier besonders frustrierenden Zeitpunkt, war aber verdient.

Dann hatte Italien das Spiel, das es wollte, und setzte früh auf Kontrolle. Dabei blieben sie wacher, schneller, attackierten jeden Gegner. Und Mann gegen Mann, das kann der Spanier nicht, obwohl die Stars vom FC Barcelona und von Real Madrid eine solche intensive Gegenwehr aus den Begegnungen gegen Atletico Madrid gewohnt sein müssten.

Bereits zur Halbzeitpause deutete daher vieles auf einen Sieg der Italiener hin, trotz der stärkeren Offensive der Spanier, die nur zwischen der 50. und der 60. Minute, das Spiel andeutungsweise unter Kontrolle zu bringen schienen. Da waren die Offensivaktionen, die man vermisst hatte, und man dachte kurz: Ok, das sind die Spiele, in denen ein Europameister reifen, oder sich beweisen muss. Doch allmählich lasen die Italiener das spanische Spiel besser, erkannten, das zu viel über die linke Seite und zu wenig über Mitte-rechts kam, verstärkten die Abwehr, und das Powerplay der Spanier versickerte von Sekunde zu Sekunde mehr. Pedros Einwechslung kam in der 80. Minute zu spät.

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Gezeitenwechsel im Fußball, fürs erste zumindest: Spanien wird sich neu erfinden müssen. Lange Jahre spielten die Spanier einen Fußball, der die fußballerischen Glaubenswahrheiten in ihren Grundfesten erschütterte und eine ganze Generation prägte, das Spiel als ein Naturereignis von übermenschlicher Vorstellungskraft, einen Fußball, der so verführerisch war wie effektiv, so furchtlos wie lässig, Fußball als elegante Libertinage, provozierend in ihrer spielerischen Lust am Spiel mit dem Gegner, einer Lust, die der der Katze glich, die sich mit der Maus vergnügt. Oder – meinetwegen – an das Spiel des Matadors mit dem Stier erinnert. Beide zögern den Todesstoß hinaus: „Tan largo no me fiàis“ („Damit hat’s noch eine gute Weile“).

Alle ahmten die Spanier nach. Denn der spanische Fußball war genau das, was Sören Kierkegaard über den (spanischen) Mythos Don Juan schreibt: „Ein Bild, das zwar immer wieder erscheint, aber niemals Gestalt und Konsistenz gewinnt, … das immerfort sich bildet, aber niemals fertig wird, von dessen Geschichte man nichts anderes erfährt, als wenn man dem Getöse der Wogen lauscht …. Don Juan ist von Grund auf Verführer. Seine Liebe ist nicht seelisch, sondern sinnlich, und sinnliche Liebe ist ihrem Begriffe nach nicht treu, sondern absolut treulos, sie liebt nicht eine, sondern alle, das heißt: sie verführt alle.“ Es war Fußball als sinnliche Gewissheit im Augenblick, und jederzeit verschwindend in der Zeit.

Der Papst dieses Fußballs war (ist?) Pep Guardiola, ein Fußballtrainer als Ästhet und Intellektueller, als Zweifler, der an sich und der Welt leidet. Jeder Sieg, jeder Titel erzeugt in ihm nur neue Leere und Überdruss. Er sucht nach Höherem, die Normalität des Ergebnisfußballs ekelt ihn an. Wir werden sehen, ob gestern auch das Prinzip Guardiola gescheitert ist, ob die Neuerfindung des spanischen Fußballs eine Weiterentwicklung sein wird, oder eine Kehrtwende.

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Fazit: Die Italiener werden immer noch sträflich unterschätzt. Selbst von „Experten“. Sie sind, nach diesem, Sieg, schwerer auszurechnen denn je. Und der Favorit im bevorstehenden nächsten heimlichen Finale.

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