Blumfeld

Testament der Angst

Als das Album im Mai 2001 erschien, wirkten Zeilen wie „Ich hab Angst vor Deutschland / Ich hab Angst vor Europa / Den USA und der Nato“ noch nicht wirklich greifbar; es gab keinen Krieg, durch den Europa und die USA unseren Alltag bestimmten. Die Welt war noch nicht so sehr aus den Fugen geraten, wie sie es nach Nine Eleven sein würde. Erst dann wurde „Testament der Angst“ als Protest-Album bekannt.

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Endlich wieder ein deutschsprachiges Protest-Album. Wer an Blumfeld als politische Band denkt, dem fällt heute vor allem das Debüt „Ich-Maschine“ von 1992 ein, das auch von den Neonazis der Nachwendezeit handelte, und das zwei Jahre später veröffentlichte „L‘ Etat Et Moi“, es zeigte, dass man mit der Wiedervereinigung noch lange nicht fertig war.

„Platte des Jahrzehnts!“

„Testament der Angst“ erschien als Protest-Album in einem Jahr, in dem die deutschen Charts an der Spitze schon so schlecht besetzt waren wie heute: Peter Maffay, Schiller, No Angels, Pur, das waren die Künstler mit den Nummer-eins-Alben. So wie alle anderen Blumfeld-Platten ging natürlich auch das „Testament“ nicht auf die Eins, die Hamburger Schule, gestartet in den frühen Neunzigern, hatte die Charts dann doch nicht erobern können. Das Werk schaffte es, in einem hart unkämpften Jahr, immerhin auf Platz sechs. Label-Urgestein Alfred Hilsberg, damals mit zuständig für die Bewerbung des Albums, brüllte dem Journalisten, die Nullerjahre waren noch recht jung, ins Telefon, euphorisch: „Das ist die Platte des Jahrzehnts!“.

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„Testament der Angst“ enthielt als Protestsong nicht nur das Titelstück, sondern mit „Diktatur der Angepassten“ auch den am unverblümtesten In-Your-Face-Text, den Distelmeyer bislang geschrieben hat: „Im Norden, Süden, Osten, Westen / die Diktatur der Angepassten / das Geld vibriert und auf den Genchips / diktiert ein freier Markt das Leben“. Edelfeder-Fans rümpften da zwar ihre Nase, aber das war der Preis, den Distelmeyer zahlte, um mit einem Polit-Song so viele Leute wie möglich zu erreichen: Die Sprache muss wirklich jeder verstehen können. Mehrheiten schaffen. Blumfeld spielten „Diktatur der Angepassten“ beim Riesenfestival „Rock am Ring“. Anders als in „Old Nobody“, als Distelmeyer eher zurückhaltend sang, seine Stimme hinter die Instrumente treten ließ, gibt es hier bereits Theatralik, inszenierte Schludrigkeit, auch ein wenig mehr Schu-Bi-Du und Dum-Di-Dum.

Allein beim Lesen der Tracklist aber konnte man ahnen, dass Jochen Distelmeyer einige der härtesten Stücke seiner Karriere auspacken würde: „Eintragung ins Nichts“, „Anders als Glücklich“, „Testament der Angst“, „Diktatur der Angepassten“. Wie die Inschriften auf einer Reihe von Grabsteinen in der Hölle. Titel wie Wörter, die man benutzt um eine Verstimmung mitzuteilen, oder um bei jemand anderem mit Worten möglichst viel Schaden anzurichten.

Das Beste aus beiden Welten

Das Blumfeld-Lager teilt sich, warum auch immer, in zwei Lager. Es gibt die mit dem Faible für schlicht Kompliziertes, Stoff für Rätselfreaks, wie „Rot an sich ist rot erblindet /hält sich kreisförmig für möglich“ aus „Walkie, Talkie“. Dann gibt es die Hörer mit dem Faible für Referenzen, „Ein weißes Pferd / Ein schwarzer Vogel / Am toten Punkt / Dabei ein Clown“, wie in „So Lebe ich“.

Das neue Album „Testament der Angst“ setzte nun auf eine präzise, wenig verschlüsselte Sprache. Distelmeyer brachte Fantasien zu Papier, die in der deutschsprachigen Musik zu Beginn des Jahrtausends unverwechselbar waren. Die totale Ausweglosigkeit. Ein Gefühl, dass das „Ich will mich ändern“ – aus dem zwei Jahre zuvor veröffentlichten „So Lebe Ich“ – völlig ausgeschlossen ist. „Alles lebt auch ohne mich / geht seinen Gang und irrt nach Regeln / ich gehe mit dem Licht / immer dem Anschein nach und dem Ende entgegen“, schließlich: „Ich seh‘ mein Spiegelbild am Horizont / ein alter Narr, der immer wiederkommt“.

Distelmeyer singt „wir kommen ungefragt und gehen ungefragt“, er nimmt damit ein Thema der nächsten zwei Blumfeld-Platten, „Jenseits von Jedem“ (2003) und „Verbotene Früchte“ (2006), vorweg: Der Mensch als Laune der Natur, ein Lebewesen, das höchstens noch in der Natur eine Ahnung von Gott erlangen kann.

„Anders als Glücklich“, ein fast sieben Minuten langer Klagegesang, ist eines jener Blumfeld-Lieder, die für Unwohlsein sorgen, weil der brutale Text von einem eher gemütlich vor sich hin reitenden Rhythmus illustriert wird. Man schunkelt dem Untergang entgegen. „Ich will Prozac haben“, es kommt die Frage nach dem Sinn von Psychoanalyse bei steigendem Alter; die Lassie Singers singen im Chor über die Angst vor dem Alleinsein, und Distelmeyer stellt fest: „Ihr habt die Welt längst aufgegeben, für Medien, Märkte, Merchandise“, für „Geld, Gestell und Genotyp“. Zu Beginn des Jahrtausends, Distelmeyer besang es bereits in der „Diktatur der Angepassten“, waren Gen-Experimente ein größeres Politikum als heute, das wird einem erst wieder bewusst, wenn man das Album 2016 hört.

Den Total-Kollaps beschrieb wohl „Der Wind“ mit seinen Horror-Zeilen: „Ein kleines Kind kommt mir im Flur entgegen / es redet wirr und drückt mich an die Wand“. Kinder reden eigentlich nicht wirr, einen vernebelten Geist haben nur Erwachsene, Kinder sind auch nicht stark, vielleicht ist auch nur der Sänger zu schwach.

Arbeit, Fernsehen, Schlafen gehen

Selbst die Vorabsingle „Graue Wolken“ erzeugte ein verunsicherndes Gefühl. Gar nicht aufgrund der Premiere eines neuen Instruments im Blumfeld-Katalog – wegen des Saxofon-Solos waren damals vor allem „Visions“-Leser entgeistert, heute hören wir in der Popmusik fast nur noch Saxofone. Sondern weil die „Grauen Wolken“, die Depression, mit einer Zeile der Münchner Freiheit illustriert wurde: „Arbeit, Fernsehen, Schlafen gehen“ – so mache das Leben keinen Sinn. Wer Distelmeyer, und man konnte diesen billigen Vergleich schon 1999 nicht mehr hören, einen „Ausflug in den Schlager“ unterstelle, fühlte sich hier wieder bestätigt. Eher aber war dieser elegant eingerichtete Popsong wie eine Grußkarte, in der in Wirklichkeit Abschiedsworte stehen.

So einzigartig die Texte waren, die Musik klang bei Blumfeld erstmals etwas schematischer, bisweilen hatte sie etwas Muckertümliches, Dampfwalzen-artiges. „Testament der Angst“ und „Diktatur der Angepassten“ sind solche Deutsch-Rocker, denen der Gitarren-Drive von etwa „Mein System kennt keine Grenzen“ (aus „Old Nobody“, 1999), das sich wie eine Serpentinen-Fahrt anfühlt, fehlt. Als würde Distelmeyer der Kraft seiner Worten nicht immer vertrauen, doppelt er sie außerdem mit Geräuschen. In „Der Wind“ hören wir Wind, wie vom Mund geblasen, und wenn man in „Eintragung Ins Nichts“ vor die Hunde geht, denn bellen die Tiere im Hintergrund.

Mit neun Songs war „Testament der Angst“ die knappste aller Blumfeld-Platten. Die magische Neun, die vielleicht schönste Songanzahl, die ein Album haben kann, weil das Werk dann so abgebrochen wirkt. Aber nach all der Wut, Frustration, Trauer, war es vielleicht nur umso folgerichtiger, dass die Band, als alle eigenen Worte gesagt waren, zum Ausklang das Stück eines anderen spielt. Das versöhnliche „Abendlied“ von Hanns Dieter Hüsch.

Monate nach Veröffentlichung würde Jochen Distelmeyer auf der Bühne die neuen Songs befreiter vorstellen, „Testament der Angst“ wurde fast zur Parodie – er legte seine Stimme tief, röhrte bei der Ansage den Titel so, wie ein Metal-Sänger es tun würde. Derart konnte man mit dem Material natürlich auch verfahren.

Als dann der Elfte September kam, war „Testament der Angst“ eine Anleitung zum Unglücklichsein. In der Therapiesprache würde man außerdem sagen: Es geht, im Album wie in der Politik, weniger um Forderungen an den anderen, als um Ich-Bedürfnisse.

Twitter:@sassanniasseri