Der Berserker hinter der Kamera: Zum 60. Geburtstag von Lars von Trier
Mit Filmen wie "Breaking The Waves", „Idioten“, „Dogville“ oder „Antichrist“ verschob Lars von Trier mehrmals die Grenzen des Erzählkinos. Eine umfassende Würdigung seines Werks anlässlich seines 60. Geburtstags.
Die gesamte Karriere des Lars von Trier, alle künstlerischen Höhen und so manche biographischen Tiefen, können im Gesicht von Kirsten Dunst abgelesen werden. Im Mai 2011 feierte „Melancholia“ auf dem Filmfestival in Cannes Premiere und der Regisseur war gemeinsam mit seinen Darstellern angetreten, die blühendschön gefilmte Untergangserzählung zu erklären.
Angesprochen auf die gotische Stimmung in dem Film, die eine Journalistin an die deutsche Romantik erinnerte, versuchte von Trier seine Familiengeschichte zu entblättern. 40 Jahre lang glaubte er, dass er Jude gewesen sei, dann gestand ihm seine Mutter auf dem Sterbebett, dass sein Erzeuger in Wahrheit ein Deutscher namens Fritz Michael Hartmann war, Sohn einer dänischen Komponistenfamilie. Völlig ohne Grund verstieg sich der Filmemacher zu der Behauptung, in Wahrheit ein Nazi zu sein und Hitler, obwohl er Böses getan hätte, gut verstehen zu können.
In dem Video zur Pressekonferenz sah man minutiös, wie sich im Gesicht von Kirsten Dunst das Entsetzen spiegelte, wie sie erst den merkwürdigen Spruch hinweg lachen wollte und dann erfolglos versuchte, den Regisseur von seinen Gedanken abzubringen. Sie tauschte verzweifelte Blicke mit ihren Kollegen und sank schließlich in sich zusammen.
Das enfant terrible machte, was man von ihm gewohnt war
Nur Stunden später wurde Lars von Trier in dem französischen Luxusbadeort, wo er schon mehrere Preise gewinnen konnte und zu den Stammgästen gehörte, zur persona non grata erklärt. Ein guter Witz, denn der Autorenfilmer wurde jahrelang nur deswegen eingeladen, weil er als enfant terrible im ansonsten öden Programmeinerlei für Aufregung und Diskussionen sorgte. Der Däne lieferte, was man von ihm erwartete – und musste sich der schnöden politischen Korrektheit ergeben.
Die Filme von Lars von Trier sind zwar als Provokationen angelegt (weil sie wie in „Idioten“, „Antichrist“ oder „Nymphomaniac“ explizite Sexszenen zeigen, geistigen Zerfall mit geradezu rührender Naivität umschreiben oder auf gängige ästhetische Normen pfeifen), doch ihre suggestive Wirkung erzielen sie nicht mittels Schockszenen allein. Schon „Bilder der Befreiung“, die 1982 gedrehte Regie-Abschlussarbeit an der Dänischen Filmhochschule, gab mit ihrem programmatischen Titel vor, worum es dem Regisseur geht: Vorstellungswelten zu dekonstruieren und Sinndiktaturen aufzulösen. Der Film mischte in Farbe gedrehte Spielfilmanteile mit schwarz-weißen Dokumentaraufnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus und ergänzte sie schließlich mit Bildern von einem zwitschernden Vogel auf einem Baum. Schon hier nahm von Trier viele seiner späteren Themen vorweg, zeigte von Angst umhüllte Menschen, die ihrem Schicksal nicht entkommen können, visualisierte, wie sein großes Vorbild Andreij Tarkowskij, Elemente wie Feuer und Wasser auf geradezu expressionistische Weise und verweigerte der Handlung jede Form der Beständigkeit und Linearität.
Die Anziehungskraft faschistoider Symbole wurde auch zum Thema in seinem ersten Langspielfilm „Element Of Crime“ (1984), Auftakt seiner so genannten Europa-Trilogie und Namenspate für die Band um Sänger Sven Regener. Darin begibt sich ein Polizist, der vermutlich sein Gedächtnis verloren hat, zu einem Psychiater für eine Hypnosebehandlung – der Startschuss für einen surrealen Kriminalfilm, mit dem sich von Trier geradezu vorbildhaft postmoderner Erzähltechniken bediente. Doch auch wenn der Nachfolger „Epidemic“ (1987) in Cannes vorgeführt wurde und der letzte Teil der Trilogie, „Europa“ (1991), den Großen Preis der Jury erhielt, wurden Amerikaner wie Steven Soderbergh (Goldene Palme für “Sex, Lügen und Video“, 1989), die Coen-Brüder (Goldene Palme für „Barton Fink“, 1991) und David Lynch (Goldene Palme für „Wild At Heart“, 1992) viel eher für ihren postmodernen Furor gefeiert.
Leidende, opferbereite Frauen
Das Hypnotische sollte fortan genauso wie die geradezu brachiale Fokussierung auf die rettungslos in Seenot geratene Seele Hauptaspekt seiner Filme werden. In „Europa“ wird die Umneblung der Hauptfigur und des Zuschauers in einer verführerischen Anfangssequenz gleich als Stilmittel eingeführt. Zu sehen sind unendlich sich in die Nacht hinausdehnende Bahngleise. Eine sanfte Stimme verkündet dazu: „Wenn du innerlich bis zehn gezählt hast, wirst du in Europa sein.“ Von Trier, der fortan fast all seine cineastischen Projekte in Trilogien einteilte (Golden-Heart-Trilogie, USA-Trilogie, Trilogie der Depression) und damit die mythologische Dimension seiner Geschichten herausstellte, gelang es fast immer, kompromisslos seine eigenen künstlerischen Vorstellungen durchzusetzen. Voraussetzung dafür war sicherlich die Gründung der Filmproduktionsfirma Zentropa im Jahr 1992, die längst die größte Produktionsstätte Dänemarks geworden ist und dem Regisseur große finanzielle Unabhängigkeit bietet.
Mit der TV-Produktion „Medea“ (1988) legte von Trier zum ersten Mal sein Augenmerk auf das tragische Schicksal großer Frauenfiguren. Die Heldin der antiken Sage, die in den unterschiedlichsten Varianten ausgelegt worden ist, wird bei ihm zur maximal leidenden Figur. In Grundzügen folgte der Filmemacher, der sich hier eines Drehbuchs des großen Landsmanns und Kino-Minimalisten Carl Theodor Dreyer bediente, der klassischen Tragödie, doch der Schwerpunkt der Betrachtung wurde auf die wilde, unablässig präsente Natur gelegt. Nicht anders ist es bei „Breaking The Waves“ (1996), wo es um das Leben der tiefreligiösen Bess McNeill (energisch und vieldeutig gespielt von Emily Watson) geht. Nachdem ihr Mann bei einem Unglück auf einer Bohrinsel schwer verletzt wird, animiert er sie, unglücklich darüber, seiner Frau körperlich nicht mehr näher kommen zu können, mit anderen Männern zu schlafen und droht ihr, dass er nur so am Leben erhalten werden kann. Die schottische Berg- und Meerwelt wird hier zum eigenen Protagonisten, ihre Rauheit symbolisiert erschreckend körperlich die rohen Kräfte, die auf die naive Bess einwirken.
Während viele Kritiker damals die großen schauspielerischen Leistungen lobten, wurden zum ersten Mal Stimmen laut, dass es Lars von Trier mit dem Leid seiner Frauenfigur – hier im Liebesrasen vollkommen selbstvergessen – übertreibt und damit zwangsläufig eine misogyne Perspektive einnimmt. Ein Vorwurf, der fortan fast all seine Filme begleiten wird, welche wie das Meta-Musical „Dancer In The Dark“ (2000), in der die nach den Dreharbeiten vollkommen ausgelaugte Sängerin Björk mitspielte, mit dem gewaltsamen Tod weiblicher Hauptfiguren enden, die letztlich unschuldig schuldig geworden sind. Dabei kommt es sichtbar auf die Perspektive an: Lars von Trier, beeinflusst von den großen Mystikern und ausgesprochen belesener Bibelkenner, skizziert die Frauen in ihren Opferrollen als ausgesprochen stark und selbstbewusst. Diese zwangsläufig melancholische Lesart musste selbsternannte Feministinnen vor den Kopf stoßen und richtete sich fundamental gegen linksliberale Aufklärungsideologien. Mit „Antichrist“ und „Nymphomaniac“ trieb es der Querkopf, der wie kaum ein anderer Künstler der Gegenwart weibliche Befindlichkeiten zum Zentrum seines Werkes machte, allerdings noch wesentlich weiter.
Dogma 95 und die Folgen
1995 unterschrieb Lars von Trier gemeinsam mit Kristian Levring, Søren Kragh-Jacobsen und Thomas Vinterberg ein Manifest namens Dogma 95, das die Geschichtsschreibung des Kinos zwar nicht derart massiv veränderte wie die französische Nouvelle Vague oder andere namhafte Filmwellen – aber das war erklärtermaßen gar nicht die Absicht der Initiatoren. Recht eigentlich brachte die Filmbewegung, in der es darum gehen sollte, der Wirklichkeitsentfremdung der bewegten Bilder mittels radikaler Reduzierung der filmischen Mittel etwas Authentisches entgegenzuhalten, nur zwei Meisterwerke hervor: „Das Fest“ von Thomas Vinterberg und „Idioten“ von Lars von Trier. Allerdings gehören diese beiden Ausnahmewerke zurecht in die Ruhmeshalle des europäischen Autorenkinos.
In „Idioten“ (1998) erzählte von Trier von einer Gruppe junger Menschen, die sich durch idiotisches Verhalten gegen die Gesellschaft auflehnen. Die grob inszenierten, orientierungslosen Handkamerabilder und die Darstellung völlig unerwarteter emotionaler Ausbrüche auch tabuisierter Gefühle machten den Film, neben seinen Hardcore-Szenen einer Gruppenorgie, schlagartig berühmt. Auch wenn hier alles nach einer neu aufgegossenen 68er-Abrechnung mit den humorlosen Spießbürgern Dänemarks aussah, ging es doch wieder um eine Befreiung der Bilder von ihrem narrativen Ballast, ihrem Zwang, den Zuschauern eine (zumeist unbewusst vermittelte) platte Moral ins Gehirn zu träufeln. Natürlich ist es auch ein Film von Idioten über Idioten für Idioten, wie Nataly Bleuel in ihrer Kritik für den „Spiegel“ damals urteilte – aber grundsätzlich nahm von Trier eine gesellschaftliche Entwicklung hin zur kollektiv hingenommenen Infantilisierung vorweg, die ihre Höhepunkte wohl erst zwei Dekaden später erlebt.
Bedingungsloser Minimalismus – oder inszenatorischer Starrsinn?
Mit „Dogville“ (2003) verlagerte von Trier sein Programm eines bedingungslosen Minimalismus, das im Kino mit Regisseuren wie Buster Keaton, Carl Theodor Dreyer Yasujiro Ozu, Robert Bresson, John Cassavetes, Jim Jarmusch oder Bruno Dumont ein eigenes, stillschweigendes Genre bildet, von der Produktionsebene auf die Arbeitsfläche. In dem ersten Teil der USA-Trilogie spielte Nicole Kidman, damals auf dem Höhepunkt ihres schauspielerischen Ruhms, eine Frau, die in der Zeit der Großen Depression vor Gangstern in ein Dorf in den Rocky Mountains flüchtet und dort zum Spielball der Interessen wird. Schließlich rächt sie sich gewaltsam an den Bewohnern. Die komplexe Moral der Geschichte wird dadurch verstärkt, dass hier wirklich alle Brecht-Effekte eingesetzt wurden, an die sich der Regisseur noch erinnern konnte. „Dogville“ ist eine mit Kameras (brillant) abgefilmte dreistündige Theatervorführung in einer Geisterkulisse. Natürlich wurde dem Regisseur inszenatorischer Starrsinn vorgeworfen; der ästhetische Kontrollzwang, der sich bis auf die rabiate Arbeit mit den nicht selten überforderten Schauspielern ausweitete, blieb vielen Rezensenten fremd.
Aber spätestens mit „Dogville“ wurde auch dem letzten Skeptiker seiner Filme bewusst, dass von Trier nicht nur einfallsreich die ästhetischen Grenzwälle der Kinematographie verschob, sondern einer der großen Moralisten seiner Generation zu werden versprach. Man mag dies als postmodernes Spielchen entziffern, muss es aber nicht: Während die Zuschauer stets noch mit den ins Schwanken geratenen Strukturen (wackelnde Handkameras, singende Schauspieler, suggestive Erzählstimmen) und den offen zur Schau gestellten Symbolen zu kämpfen haben, diskutieren seine Geschichten letztlich Schuld und Sühne, Leiden und Vergelten auf eine dermaßen wirkungsvolle Art und Weise, dass es den meisten wohl beim Zuschauen fröstelt. Der Däne arbeitet nicht mit dem Skalpell, sondern mit einem Vorschlaghammer.
Größenwahnsinnige Experimente
Das Experiment mit offenem Ausgang kennzeichnete stets die Herangehensweise von Triers. Ob dies nun gelungen war oder nicht, blieb zweitrangig gegenüber der Selbstständigkeit seiner ästhetischen Strategie. Vorbildlich im Negativen wie im Positiven war dies in „The Five Obstructions“ (2003) zu beobachten, der gemeinsam mit seinem Kollegen und Freund Jørgen Leth gedreht wurde. Leth sollte seinen Kurzfilm „Der perfekte Mensch“ aus dem Jahr 1967 auf fünf verschiedene Arten drehen und dabei jeweils jene Bedingungen beachten, die von Trier dazu aufgestellt hatte (z.B. dass eine Einstellung nicht mehr als 12 Bilder haben darf und Szenen an einem der trostlosesten Orte der Welt gedreht werden müssen). Natürlich ging es auch hier darum, zum Kern des Filmemachens vorzustoßen – ohne dass je klar würde, was dies sein könnte und wozu man danach überhaupt suchen sollte. Auf die Spitze trieb von Trier dieses nicht selten inhaltsleere Verfahren in der durchaus witzigen Komödie „The Boss Of It All“ (2005). Der Film ist nicht nur eine ironische Spiegelung des eigenen – größenwahnsinnigen! – Werks, sondern überrascht auch durch sein originäres Film- und Schnittverfahren. So hatte der Däne eigens für den an den Kinokassen gefloppten Streifen Bildausschnitt und Schnitt von einem Computer zufällig bestimmen lassen. Daran mussten sich schließlich die Geister scheiden. War das pures Genie, bloßgelegte Koketterie oder einfach blanker Unsinn?
Während sich der Regisseur für die Sorgen und Nöte seiner Darsteller eigentlich keinen Deut interessiert (man suche nur im Netz nach einigen Interviews seiner zahlreichen Darstellerinnen, die zwischen Bewunderung und Abscheu hin und her pendeln) und damit viele Schauspieler vor den Kopf stieß, gibt es auch immer wieder solche, die sich der sichtbar anstrengenden Arbeit mit von Trier gerne stellen. Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg gehören zu diesen vielschichtigen Mimen, die sich ihm – auf jeweils unterschiedliche Art – unterwerfen. Während die USA-Trilogie zwar mit „Manderlay“ (2005) noch eine eher unwürdige Fortsetzung fand (auch weil Nicole Kidman nicht mehr mitmachen wollte), blieb der versprochene dritte Teil, „Wasington“, nur ein Wunschprojekt und die Trilogie unvollständig.
Die Trilogie der Depression
Wohl auch deshalb widmete sich von Trier, der jahrelang an Depressionen und Alkoholsucht litt und deshalb auch kaum noch arbeiten konnte, einer Idee für eine umfassende Auseinandersetzung mit der Krankheit Depression und dem Konzept der Melancholie. „Antichrist“ (2009), der erste Teil dieses Dreigespanns, ist von der ersten bis zur letzten Minute ein widerspenstiges, unerhört schön gefilmtes, von den unterschiedlichsten Deutungsebenen platzendes Monstrum von einem Film. Schon die Anfangssequenz verstört: Ein namenloses Paar, gespielt von Dafoe und Gainsbourg, liebt sich unter der Dusche, während ihr kleines Kind aus Versehen aus dem geöffneten Fenster fällt und in den Tod stürzt. Gefilmt ist dies in Schwarz-Weiß und in Zeitlupe, als wäre es ein Werbeclip für ein teures Parfüm. Doch der Sex wird explizit dargestellt und korrespondiert mit dem Schrecken, der die Eheleute ergreift, als sie die Tragödie bemerken.
Fortan will der Mann, der Psychotherapeut ist, seiner Frau, die nach dem Unfall in Agonie verfällt, die Depression austreiben. Zu diesem Zwecke entführt er sie in eine einsame Waldhütte im Wald. Dort aber erwartet ihn nicht nur ein sprechender Fuchs (!), sondern auch eine völlige Umkehrung der Machtverhältnisse. Die schutzlose Frau wandelt sich zu einer Art Hexe und es kommt zu einem Duell um Leben und Tod, in dem selbst Reh, Fuchs und Krähe eine Rolle spielen. „Antichrist“ ist ein grauenerregendes Spektakel mit derart vielen Leerstellen, dass die Interpretation schwerfällt. Kritiker erregten sich bei der Premiere vor allem darüber, dass von Trier seinen Film offen Andreij Tarkowskij gewidmet hatte. Für sie reinste Blasphemie. Dabei stellt die Phantasmagorie unerhört spannende Fragen über die Vorstellung von Weiblichkeit/Männlichkeit und ist zugleich eine bittere, ätzende Satire auf die Psychotherapie und Seelenheilkunde im Speziellen, die nach von Triers Lesart die Menschen völlig falsch einschätze und sie anstatt sie zu heilen in Wahrheit erst zu seelischen Krüppeln mache. So laut hatte seit Deleuze/Guattari keiner mehr auf diesem Komplex herumgetrümmert.
„Melancholia“ (2011) wirkt im Vergleich zu seinem Vorgänger wesentlich zurückgenommener, geradezu irritierend still und ätherisch. Doch auch hier geht es um eine unerhörte Begebenheit, die kraft ihrer symbolischen Ausdrucksstärke bei weitem jede Form der Erzählung pulverisiert. Handelt der erste Teil des Films von der letztlich scheiternden Hochzeit einer jungen, trübseligen Frau namens Justine (gespielt von Kirsten Dunst), die von ihrer lebensfrohen, pragmatischen Schwester Claire (dargestellt von Charlotte Gainsbourg) für ihr Zaudern zurechtgewiesen wird, so kehren sich im zweiten Teil die Verhältnisse um: Ein Planet, der sehr passend auf den Namen Melancholia getauft wurde, rast auf die Erde zu und droht sie damit vollends zu zerstören. Keine Minute lässt der Film die Hoffnung zu – wie sie in jedem anderen Katastrophenfilm an dem einen oder anderen Ende glimmt -, dass dieses mörderische Gestirn aufgehalten werden könnte. Aber zu sehen ist nun, wie die einstmals schwache Justine im Angesicht des Untergangs zu Kräften kommt, ja sogar zu einer Hellsichtigkeit, die all den anderen Menschen um sie herum – und vor allem auch ihrer nun vollkommen hysterischen Schwester – nicht möglich ist. Von Kameramann Manuel Alberto Claro in bertörende Bilder getaucht und mit der Musik von Richard Wagner unterlegt, gebärdete sich „Melancholia“ als von Triers wohl bekömmlichster und auf den ersten Blick am leichtfertigsten hinzunehmender Film. Doch die Pointe, die der Regisseur seinem Werk verleiht, könnte subversiver nicht sein: Er rettet die Armen, Schwachen und Kranken vor ihrem Schicksal, für ihren Zustand gebrandmarkt werden zu können und verleiht ihnen im Angesicht der Zerstörung (einem Moment also, der den inneren Zustand mit dem äußeren kollidieren lässt) eine faszinierende Größe und Würde. Außerdem schenkte der Regisseur Kisten Dunst die Rolle ihres Lebens. So ambivalent, undurchsichtig, sexy und berührend spielte sie bisher in keinem anderen Film.
Dass „Nymphomaniac“ (2013), wieder mit Charlotte Gainsbourg in der Hauptrolle, den Kreis mit Blick auf die Depression erneut aus weiblicher Perspektive schloss und sich dabei vor allem auf die von allen Formen der Sublimation losgelöste Sexualität richtete, ist kein Wunder. Von Trier ging es ja gerade darum, das Klischee, die Depression sei vor allem eine Krankheit der Frauen, vom Kopf auf die Füße zu stellen. So wie er in „Antichrist“ das weibliche Wesen als Hexe und den weiblichen Teufel als Schöpferin der Welt postulierte, so wird hier die unkontrollierte Explosion der Sexualität geradewegs nur noch der Frau zugesprochen. Der Mann bleibt nur williges oder unwilliges Objekt, ein Werkzeug. Erzählt wird in zwei Teilen (die auch separat ins Kino kamen) die Lebensgeschichte einer Frau namens Joe, die, verletzt und Schutz suchend, ausgerechnet bei einem Mann namens Seligmann Unterschlupf findet, der in seinem Leben noch keinen Sex hatte und sich geduldig ihre Reflexionen anhört.
Erneut schuf von Trier eine klassische psychotherapeutische Grundkonstellation mit ungewissem Ausgang, noch einmal wurden Sexszenen mit pornographischen Sequenzen drastischer gemacht. Ein wenig unfreiwillig komisch wirkten einige Szenen dabei schon, weil der Einsatz von Computertechnik mehr oder minder sichtbar wurde. Doch auch in „Nymphomaniac“ kreisen die Gedanken um Wahnsinn, Verzweiflung und Opferbereitschaft. Die Depression wird als Dämon enttarnt, demaskiert und von ihrer Klassifizierung als Krankheit „befreit“ – gegen alles (bessere?) Wissen der Moderne und der aufgeklärten Welt. Ob man von Triers Weg moralisch folgen will, ist eine Frage der persönlichen Einstellung, seine Bilder regen allerdings wie wenige dazu an, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Mit der Trilogie der Depression gelang dem am Samstag (30. April) 60 Jahre alt werdenden Berserker hinter der Kamera seine wohl bedeutendste und zugleich persönlichste Werkreihe. Eine tiefgreifendere Auseinandersetzung mit der Depression, der Geißel unserer Zeit, ist auch in der Literatur nicht zu finden.