45 Jahre „Ram“ von Paul & Linda McCartney: Wir können auch Avantgarde!
Mit dem zweiten Soloalbum macht Macca den Freischwimmer
Viele Beatles-Fans der frühen und mittleren Periode taten sich schwer mit der Hippie-Werdung der Fab Four. Aus adretten jungen Männern in korrekten Anzügen und später dann bunten Fantasy-Uniformen wurden bärtige Zausel. Dieser schratige Un-Style war halt 1970/71 á la mode und besonders NYC-Exilant John Lennon kultivierte diesen Sit-in-Look gemeinsam mit seiner Yoko zur Perfektion. Oder sollte man besser sagen: Un-Perfektion, was ja auch der Taktgeber des gemeinsamen (Kunst-)-Musikprojektes Plastic Ono Band war. Lennon also war aus den Chartgefilden erstmal raus – aber cool mit seiner Matte und seiner runden Nickelbrille. George Harrison legte gar das wunderliche Dreifach-Album „All Things Must Pass“ vor und bestätigte seine Aura als ewig unterschätzter Kauz. So weit, so Solokarriere.
Bei Paul Mc Cartney waren die Traditions-Fans und – Kritiker strenger. Gerade von ihm hatten sie am ehesten erwartet, dass „Macca“ Songwriting und Songs halbwegs im bewährten Mersey-Fahrwasser hält. Weit gefehlt. Auf der zweiten Soloplatte „Ram“, die seine Ehefrau Linda als gleichberechtigte Partnerin führt, werden die Strukturen gehörig durcheinander gewirbelt. Nicht nur die Großkritiker des amerikanischen ROLLING STONE waren entsetzt: Statt straighter Hits übten sich Linda und Paul bereits in Post-Rock-Kompositionen. Lange bevor die Rockmusik überhaupt zur Blüte kam. Ein typisches Beispiel von „seiner Zeit weit voraus“.
Schon die ethno-krickelige Covergestaltung mit Paul und dem schwarz-weißen Schaf deutet auf Landkommunarden-Seeligkeit hin. Auch die zwölf Songs, eingespielt mit allerlei technischem Hokus-Pokus, sind nicht gerade Britpop reinsten Wassers. Der 28-Jährige wollte auf „Ram“ ganz offensichtlich die Gespenster der Vergangenheit verscheuchen; was ihm auch überzeugend gelungen ist. „Small pleasures with big melodies” diagnostiziert Thomas Erlewine vom „All Music Guide“ und fürwahr: McCartney scheint einen Heidenspaß daran gehabt zu haben, all die alten Schoten gehörig zu “dekonstruieren” (wie man in den Post-Rock-Nullerjahren gesagt hätte).
Heute noch einmal durchgehört, wirken Songs wie „Uncle Albert/Admiral Halsey“ nicht wahnsinnig radikal, sondern eher süß-versponnen. Es gibt moderaten Lärm auf „Smile Away“ und allerlei Studiotricks auf dem Album-Eröffner „Too Many People“; dem „Hit“ dieses Frühsiebziger-Statements. Trotz all der Unkenrufe von wegen „Ist jetzt auch noch Paul verrückt geworden“, war „Ram“ kommerziell gar nicht mal DER Schuss in den Ofen, den viele Auguren erwartet hätten. Die Zeiten ändern sich, auch soundmäßig.
Und das haben Macca und Linda sehr früh erkannt. So gelesen markiert „Ram“ die Geburt von McCartney als Avantgardist. Eine wohlfeile Rolle, die er in den nächsten 45 Jahren immer mal wieder geben sollte. Einmal frei geschwommen, konnte sich der Ex-Beatle nunmehr wie ein fideler Fisch im weiten Ozean der Sounds bewegen.