35S Akkorde für ein Hallelujah
Wer Pop-Revolutionen anzetteln will, braucht mehr als sechs Saiten: Joanna Newsom und Sufjan Stevens machen studiertes Musizieren cool.
Die Zeit der E-Gitarren ist vorbei. Es sind nicht die Rotzbengel mit den Lederjacken und den drei Akkorden, die den Pop voranbringen, die Revolution ausrufen oder was immer man macht, wenn man jung ist und überschüssige Energie abzugeben hat. Gitarrenbands taugen nur noch als Soundtrack beim Jeanskauf. Die junge Pop-Avantgarde spielt Geige oder Harfe oder Querflöte, ist musikalisch gebildet und kann die Unterschiede zwischen Neil und La Monte Young auswendig hersagen. So etwa die junge amerikanische Harfinistin Joanna Newsom, die unter anderem beim Minimal-Music-Pionier Terry Riley studierte. Sie bezieht sich in ihren Stücken auf moderne amerikanische Komponisten wie Henry Cowell, Harry Partch und Aaron Copeland und hat ein hochkomplexes, fantastisches Dreifach-Album gemacht, das sich mit der Topografie des amerikanischen Westens beschäftigt. Der englische Wikipedia-Eintrag zu „Have One On Me“ ist etwa so lang wie der zu „Rock’n’Roll“ oder „Ulysses (novel)“ – und er ist noch längst nicht abgeschlossen. Auch der kanadische Violinist Owen Pallett und der isländische Komponist Nico Muhly musizieren auf der Grenze zwischen E- und U-Musik.
Wenn Joanna Newsom die Königin der Popstreber ist, dann ist Sufjan Stevens der Prinz. Er studierte Oboe und Englischhorn, erfand die USA (oder zumindest zwei ihrer Staaten) musikalisch neu, schrieb eine Symphonie über den Brooklyn-Queens-Expressway und veröffentlichte in diesem Jahr mit „The Age Of Adz“ das Album, das man hören muss, wenn man wissen will, was das Wort Popmusik 2010 bedeutete.