3 Minuten Glück
Heißhunger auf Hits: Zumindest bis Ende der 60er-Jahre ist die Geschichte des Soul auch eine Geschichte der Single. Eine kleine Einführung auf 45 Umdrehungen
Auf jedes großartige Soul-Album kommt ein Dutzend noch großartigerer Soul-Singles, mindestens. In den Soul-Schmieden von Memphis oder Detroit drehte sich alles, wirklich alles nur um Versuche, Hits zu produzieren, möglichst am laufenden Band. Es galt, Talent und Energie, Konzentration und Kreativität so zu bündeln, dass am Ende der kollektiven Anstrengung eine Aufnahme stand, zwei oder drei magische Minuten lang, die den Unterschied machen konnte zwischen Soll und Haben, zwischen Mangel und Luxus. Es war nicht zuletzt dieser Heißhunger auf Hits, dem wir die genialsten Momente der Soul-Historie verdanken. Ein paar davon mögen Glücksfälle gewesen sein, aus der Eingebung des Augenblicks entstanden, doch meistens waren sie das Resultat rigoroser Auslese.
Von den verfügbaren Songs kamen nur die besten in Betracht, die Session-Musiker mussten Alleskönner sein, Arrangement und Produktion hatten sich perfekt zu ergänzen, und vom Interpreten wurde die ultimative Performance eingefordert. Vom Gesang hing viel ab, nicht nur im Sinne schnöder stimmlicher Bewältigung. Tief unter die Haut des Hörers musste der Song gejagt werden, die Seele massieren. Gelang das, hatte man einen Hit. Nicht unbedingt einen, der um die Welt ging. Etlichen großen Soul-Sängern blieb internationaler Erfolg verwehrt, man denke an James Carr oder O. V. Wright, doch so hoch wurde in den kleineren Soul-Manufakturen etwa von Minit oder Goldwax nicht gezielt. Wenn bei regionalen Radiostationen Airplay generiert wurde, Jukebox-Betreiber wie Plattenläden der Umgegend auf gesteigerte Nachfrage reagierten und womöglich gar überregionale Vertriebe Interesse bekundeten, war man im Geschäft. Die Essenz des Soul drehte sich mit 45 rpm.
Langspielplatten waren in der Blütezeit des Soul, also bis Ende der 60er-Jahre, allenfalls Beiwerk für eine saturierte Klientel, die keinen Wert auf sofortige Satisfaktion legte, sondern eher auf Komfort. Die Verkäuflichkeit dieser LPs hing freilich davon ab, inwieweit sie mit Hits wuchern konnten, die nun nicht mehr singulär, sondern zweitverwertet als LP-Tracks für Umsatz sorgten. Um sie herum wurden hurtig ein paar jener meist minderen Songs drapiert, die man als singleuntauglich aussortiert hatte. Oder man bediente sich aus dem Pool der aktuellen Pop-Charts. Dass solche Sessions, bei denen für gewöhnlich in wenigen Stunden mehrere Aufnahmen heruntergerissen wurden, trotz aller schnöden Routine nicht selten hörenswert sind, spricht für die Klasse der Musiker und die intuitiven Fähigkeiten der Vokalisten. Otis Redding spazierte manchmal nachmittags ins Stax-Studio, ohne zu wissen, was zu singen anstand, und abends hatte man diverse Takes im Kasten. Nicht unbedingt von der Sorte, die zum Hit getaugt hätten, aber allemal geeignet als Füllmaterial für ein Album. Steve Cropper, nicht bloß Gitarrist der brillanten House-Band sowie Songlieferant, sondern zeitweise auch musikalischer Koordinator, bedauerte später so manche, unziemlicher Eile geschuldete Schludrigkeit.
Selbst beim Branchenriesen Tamla-Motown ließ man bei der industriellen Fertigung sekundärer Recordings, die nicht für Single-Ehren ausersehen waren, wenig Sorgfalt walten. Viele Tracks enden mit einem so unsensibel und unzeremoniell abrupt gefahreren Fade-Out, dass in Kenntnis der Produktionsbedingungen der Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, hier müsse Gleichgültigkeit im Spiel gewesen sein. Das änderte sich allmählich in den Siebzigern, als auch im Soul-Sektor die LP ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Ohne Hitsingle war zwar immer noch kein Album erfolgsträchtig, doch wurde nun auf das längere, profitablere Format hingearbeitet. Soul wandelte sich, geriet unter die Fuchtel von Ambitionen, verlor an Unmittelbarkeit. Eine Tendenz, der Labels wie Daptone als Fackelträger des klassischen Soul seit Jahren entgegenwirken, durch stetigen 7inch-Nachschub.
1. Marvin Gaye – I Heard It Through The Grapevine
Nie gingen Emotion und Eleganz, ohnehin nicht eben Soulmates, eine beseeltere Liaison ein. Gayes Gesang und Whitfields Klang versetzen in Verzückung, immer wieder.
2. Ike & Tina Turner – River Deep – Mountain High
Selbstentäußerung dieser Intensität lässt erschauern. Tina rast, die Musik blitzt und donnert, doch Phil Spectors größter Triumph als Produzent wird in Amerika ignoriert.
3. James Carr – The Dark End Of The Street
Die Deep-Soul-Anverwandlung eines Cheating-Songs in schönster Country-Tradition: Nie war Carr überzeugender als beim Hörbarmachen dieses Gewissensnotstands.
4. The Four Tops – Reach Out, I’ll Be There
Eine Single von exquisiter Dramaturgie, mit so gewaltigem wie raffiniertem Sound, ungeheuer treibendem Beat und Levi Stubbs auf dem Gipfel seiner Phrasierungskunst.
5. James Brown – It’s A Man’s Man’s Man’s World
Musikalisch sublim, als Statement widersprüchlich. Browns Chauvinismus wird gebrochen durch sentimentale Einsicht, denn alles wäre nichts „without a woman or a girl“.
6. Aretha Franklin – Think
Mit noch mehr Verve und Gospel-Ausdruck als sonst fegt Aretha durch Verse, die doch zum Nachdenken mahnen, sich im Call & Response zum Freiheitsfanal steigernd.
7. Dusty Springfield – Son Of A Preacher Man
Des Predigers Sohn ist ein Verführer, stiehlt Küsse und mehr. Und Dusty lässt es zu: „Being good isn’t always easy, no matter how hard I try.“ So muss Sünde klingen.
8. Erykah Badu – On & On
Soul, Blues, Jazz und Hiphop konvergieren aufs Anmutigste, Badu betört mit Timbre, diffundiert mit eso-baduistischem Text: „My cipher keeps movin‘ like a rolling stone.“
9. Wilson Pickett – In The Midnight Hour
Die druckvollen Bläser, die Gitarren-Licks, der marodierende Bass, Al Jacksons kickende Drums, alles Stax at its best. Und Wilson Pickett in seiner Paraderolle: wicked.
10. The Marvelettes – My Baby Must Be A Magician
Soul meets Pop, samt Studio-Trickery. Smokey Robinson komponierte, Wanda Rogers singt befriedigt vom Liebsten. Der hat, was auch diese 45 hat: „the magic touch“.