25 Jahre „Hannibal“: Darum ist dies Thomas Harris‘ bester Roman

Hannibal ist ein Popstar geworden. Ein Jet-Setter. Ein Abenteurer, ein Held

Ist Ridley Scott ein guter Regisseur? Finden nicht alle, der Autor dieser Zeilen eingeschlossen. Aber in seiner filmischen Umsetzung von „Hannibal“ hat Scott zweifelsohne vieles richtig gemacht. Er hat Thomas Harris‘ Humor verstanden. Beim Namen Hannibal denkt doch heute keiner mehr an den Feldherrn, sondern an den Kannibalen. Dieser Hannibal ist ein Popstar geworden. Ein Jet-Setter. Ein Abenteurer, ein Held. „Das Schweigen der Lämmer“ war groß, die Verfilmung vielleicht noch größer – Scott und sein Hauptdarsteller Anthony Hopkins haben erkannt, dass sie den Thrill der „Lämmer“ nur übertreffen können, wenn sie Lecter larger than life machen.

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Und das ist ihnen gelungen. Wie ein James Bond, wie ein Indiana Jones reist Hannibal durch die Welt, quer durch Amerika, und anfangs in Italien. Er kennt keine Eile. Von New York aus schickt er Ausstellungs-Kataloge an seinen Cousin in Frankreich, den „berühmten Maler Balthus“, und mit dieser Nebensächlichkeit in Harris‘ Erzählung wird uns überhaupt erst gewahr, dass es noch weitere Lecters auf dieser Welt gibt.

Doch Hannibal reist nicht wirklich, erstmals wird er gejagt, auch wenn das keinen Einfluss auf sein Tempo hat. Der Multimillionär Mason Verger, sein ehemaliger Patient, will ihn schnappen. Der Doktor hatte ihn im Drogenrausch dazu gebracht, sich zu verstümmeln und seine Haut den Hunden zum Fraß vorzuwerfen. Jetzt ist er ans Bett gefesselt und erschrickt jeden, der ihn zum ersten Mal sieht, zu Tode.

Im „Hannibal“-Film verkörperte Gary Oldman den perversen Tyrannen Verger. Er lässt sich Kindertränen in seinen Martini mixen, die Kinder weinen ja, zuvor wurde den in seine Obhut gebrachten Kleinen erklärt, sie sähen ihre Eltern nicht wieder. Auch Oldman bewies Sinn fürs Absurde. Er, der in den Neunzigern gemeinsam mit Dennis Hopper das Feld des Overacting souverän besetzte, verschwand komplett hinter der Maske eines Monsters.

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Der erste Teil des Romans, Lecters geheimer Aufenthalt in Florenz, Starlings Degradierung nach einem verpatzen Einsatz sowie die Planungen des Häschers Verger, zählen sicher zum Atemberaubendsten, was Harris bislang zur Papier gebracht hat. Hannibal, einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt, befindet sich natürlich am Ziel seiner Träume, in der italienischen Kunstmetropole. Er tarnt sich als „Doktor Fell“, Kurator der Capponi-Bibliothek, der erste Ausländer, der den Job über – mörderische – Umwege bekommen hat, und nebenbei ein herausragender Pianist, dessen Töne nachts durch den Wohnpalast in die Nacht schallen, über die leeren Kopfsteinpflaster hinweg. „Hier hat er seinen Frieden gefunden, den er sich bewahren will“, beginnt einer der so vielen grandiosen Beschreibungen. „Er hat während seines Aufenthalts in Florenz kaum jemanden getötet, sieht man einmal von seinem Vorgänger ab.“

Harris gibt sich keine Mühe, seinen Stolz auf einen der berühmtesten Bösewichte der Popkultur zu verbergen. Hannibal, der Superheld: „Sein Ego, ebenso wie sein Intelligenzquotient und der Grad seines Denkvermögens entziehen sich herkömmlichen Bewertungskriterien. Innerhalb der Analytikerzunft herrscht nicht einmal darüber Übereinstimmung, ob Dr. Lecter überhaupt als Mensch zu bezeichnen ist.“

Man kann sich leicht vorstellen, wie viel Spaß Thomas Harris bei seinen Recherchen in Florenz gehabt haben muss, wie er, aus schamlos touristischer Perspektive, in jeder verwinkelten Gasse einen romantischen Mord vermutete. Wir wissen augenblicklich, wer „Dr. Fell“ ist, erkennen Lecters Gang, seine Größe, seine Art zu sprechen, doch Harris gönnt sich den Luxus, ihn als „Dr. Lecter“ erstmals auf Seite 157 (deutsche Übersetzung) vorzustellen.

Hannibal spielt mit uns. Alle seine Jäger scheitern an ihm, dreckige Kleinkriminelle, und zum obersten Kleinkriminellen wird ausgerechnet ein Florentiner Kommissar selbst, der dreckigste Methoden anwendet, und den Harris mit jener – verhängnisvollen – Motivation ausstattet, die so viele seiner Figuren prägt: der Wunsch, der Beste seines Stammbaums zu werden, eine Familienschuld zu tilgen, die Unvermeidbarkeit einer bestimmten biografischen Entwicklung entgegenzuwirken.

Opfer für Scheitan

Inspektor Pazzi also identifiziert Dr. Fell als Dr. Lecter, aber er kommt nicht an ihn heran. Harris bedient sich auf wunderbare Weise jenen mit Italien verbundenen Klischees um Mafia und Katholizismus. Pazzi wird verflucht, weil er den Tod eines Diebes verschuldet, den er auf Lecter angesetzt hat. Die Zigeunerin Esmeralda weiß von dieser Schuld. „Mit Augen so schwarz wie Kalamata-Oliven schaute sie ihm tief in die Augen. ‚Du hast Gnocco Scheitan geopfert‘, sagte sie ruhig. ‚Gnocco ist tot‘. Esmeralda beugte such ungelenk nach vorn, als beugte sie sich über ein Huhn auf dem Hackbrett, und spuckte voller Inbrunst auf Pazzis Schatten.“ Ein Satz scheinbar wie aus einem Dreigroschen-Roman, einer Räubergeschichte wie von Karl May und auf dem falschen Kontinent, und doch irgendwie einer der vielen unsterblichen Beschreibungen in diesem großen Märchen.

Doch geht es nicht wirklich um Pazzi. Wer beherrscht hier eigentlich wen, Hannibal Clarice oder Clarice Hannibal? Harris lässt uns selbst laut denken, wenn er den wohl lustigsten Satz dem wütenden und ungeduldigen Mason Verger in den Mund legt. Der Lecter-Jäger will Ergebnisse sehen und berät sich mit seinem Profiler: „Dr. Doemling, will er mit ihr vögeln oder sie töten, oder will er sie fressen oder was?“ Alles drin, was die Beziehung zwischen Killer und Agentin ausmacht.

Es ist aber etwas komplizierter als das, es gibt keine einfachen Antworten. Hannibal hofft in der FBI-Agentin seine im Kindesalter verstorbene Schwester Mischa wiederzufinden. Das Mädchen wurde im russischen Winter des Zweiten Weltkriegs von verhungernden Nazi-Kollaborateuren aufgegessen, der junge Lecter konnte ihr nicht helfen.

Mischa, eine Hauptfigur im späteren Roman „Hannibal Rising“, kommt hier erstmals vor (was dem Gerücht widersprechen würde, Kino-Produzent Dino de Laurentiis hätte Harris indirekt zu einer Fortsetzung gezwungen, vielmehr schien Hannibals Lebensgeschichte schon ausgelegt). Es sind die Momente der Gedanken an die Schwester, die Hannibal menschlicher machen. Er wacht, eine seltene Darstellung seiner Gefühle, nachts schreiend aus dem Schlaf auf, und „Mischa“ ist auch sein einziges Wort, als ihn der Narkosepfeil von Vergers Häschern trifft.

Wie realistisch ist es, dass der große Analytiker Hannibal Lecter aufgrund eines Kindheitstraumas versucht, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, indem er aus Clarice Starling Mischa macht? Man muss sich auf solche Fantastereien einlassen können. Clarice weiß, dass er sie vielleicht nur am Leben lassen wird, solange er dieser Illusion hinterher hängt, und sie nutzt ihre Chance, ausgerechnet, indem sie einen angeblichen Ödipuskomplex anspricht: „Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, dass Sie die Brust ihrer Schwester überlassen mussten? Diese hier brauchen Sie nicht aufzugeben“, und zieht sich dann aus. Starling hat sich zwei Vorteile gegenüber dem Biest herausgearbeitet. Unvorhersagbarkeit und Selbstständigkeit.

Gerüchten zufolge wollte Jodie Foster, die Starling in „Das Schweigen der Lämmer“ verkörperte und dafür einen Oscar bekam, aufgrund brutaler Gewaltszenen nicht in „Hannibal“ mitspielen. Aber es dürften auch diese Implikationen verbotener Sexualität gewesen sein, die unbehaglich waren.

Zeit zurückdrehen

Es ist ein Zeichen Hannibals großer Schwäche, aber auch ein Motor seines Lebens: der Wunsch, die Schwester zurück ins Leben zu rufen. Er studiert die String-Theorie und die Quantenphysik, will die Umkehr des Zeitpfeils, zurück zur Klärgrube in Litauen, wo die ausgeschissenen Milchzähne des Mädchens Mischa liegen. Vielleicht muss man Theoretischer Physiker sein, um Sinn oder Unsinn von Lecters Gedanken zu verstehen, aber vertrauen wir mal den Recherchen Harris‘, dass zumindest die Theorien nur etwas mehr sind als Fantasie.

Lecter möchte an Stephen Hawkings Idee glauben, dass das Universum aufhören könnte sich auszudehnen und sich stattdessen zurückentwickelt, dass Hannibal seine Mischa also wieder in die Arme schließen kann, weil die Vergangenheit zurückkehrt. Lecter demonstriert das an der am Boden zerschellenden Tasse. Eben noch heil, dann in etliche Stücke zersprungen – die „Zunahme von Unordnung oder Entropie ist das, was die Vergangenheit von der Zukunft unterscheidet, indem sie der Zeit eine Richtung gibt.“

Aber es sind nicht nur Hannibal und Clarice, denen Thomas Harris in seinem – chronologisch betrachtet – letzten Lecter-Roman einen gebührenden Abschied schenkt. Der Mentor der FBI-Agentin, Jack Crawford, ist gemeinsam mit dem Kannibalen die dienstälteste Figur im Kosmos des Schriftstellers, von Hannibal verhöhnt, von Clarice oft bedauert, und wie Lecter seit dem „Roten Drachen“ dabei. Crawford ist ein nachdenklicher Bürokrat, stellt sein Licht unter den Scheffel, Starling muss es daher für uns alle noch einmal verbalisieren: Crawford hat die legendäre FBI-Abteilung für Verhaltensforschung (gehuldigt aktuell in der David-Fincher-Serie „Mindhunters“) aufgebaut.

Crawford ist nur ein Besucher in dieser Horror-Welt voller Kannibalen, Haut-Überstülper und Schlächter, er lebt nicht in ihr. Er ist der Mann, der am Abend nach Hause geht. Am Schluss ist Crawford Witwer geworden. Als er sein eigenes Ende kommen sieht, den nächsten Herzinfarkt, trifft er die berührende Entscheidung. „Statt einen Krankenwagen zu rufen und alles noch einmal durchzumachen, suchte er einen Trost darin, dass er sich auf die Seite des Bettes rollte, wo früher seine Frau gelegen hatte.“

… und Hannibal Lecter bleibt nicht zu fassen. Warum hat es keiner geschafft ihn zu besiegen? „Indianer kennen keinen Schmerz“, heißt das Sprichwort, aber manchmal tut es auch der Gedanke an den Gedächtnispalast, der alles ausblendet. Was wurde Ende der Neunziger im Feuilleton, sogar von Harald Schmidt, über diese Konstruktion diskutiert!

Auf den Gedächtnispalast, einer Mnemotechnik, greift Lecter nicht nur zurück, um sein gigantisches Wissen jederzeit abzurufen (bei ihm ist das Gedankengebäude so groß wie der Topkapi-Palast), er hilft ihm auch, Schmerzen zu unterbinden. Unter härtester Folter kühlt er sich die Stirn am imaginierten, kühlen Stein einer Statue im Palast. Sein Geist besiegt den Körper.

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