Berlinale, der Freitag: ‚Taxi‘ – Die Probleme der iranischen Gesellschaft in etwas mehr als 80 Minuten

Berlinale, Tag zwei: Im Mittelpunkt stehen das Ehedrama "45 Years", Werner Herzogs "Queen Of The Desert", "Taxi" von Jafar Panahi sowie der deutsche Beitrag "Im Sommer wohnt er unten".


Von Großbritannien in den Nahen Osten

Am zweiten Tag der Berlinale liefen im Wettbewerb die Weltpremieren von Andrew Haighs Ehedrama »45 Years«, Werner Herzogs Wüstenepos »Queen of the Desert« und Jafar Panahis Roadmovie »Taxi«. Außerdem eröffnete mit »Im Sommer wohnt er unten« der deutsche Regisseur Tom Sommerlatte das Programm der Perspektive Deutsches Kino.

Würde man am zweiten Berlinale-Tag eine Reise anhand der drei Wettbewerbsfilme antreten, reiste man von Großbritannien ins Osmanische Reich und weiter in den Iran. Zugleich würde man mit den drei Welturaufführungen eine doppelte Zeitreise unternehmen, aus der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück.

Spät am Freitagabend wurde Andrew Haighs Drama einer Ehe »45 Years« mit einer wie immer formidablen Charlotte Rampling und einem glänzenden Tom Courtenay gezeigt. Als Ehepaar Kate und Geoff Mercer stehen sie kurz vor den Festlichkeiten anlässlich ihres 45. Hochzeitstages. Den feiert man zwar normalerweise nicht, aber Geoff hatte kurz vor dem 40. Ehejubiläum eine Bypass-Operation. Diese hat er gut überstanden, so dass die Festivitäten nun nachgeholt werden sollen.

Da erreicht Geoff ein Brief aus Deutschland, der ihn und einiges mehr durcheinander bringt. Mit dem Brief erfährt er, dass man seine Jugendliebe Katja gefunden hätte, eingefroren im Eis eines Gletschers, der nun langsam schmilzt. Sie war bei einer Bergtour abgerutscht und nie gefunden worden.

Die Nachricht ihres Auffindens wühlt Geoff auf, er zieht sich zurück, steigt nachts auf den Dachboden und kramt heimlich in seinen alten Sachen. Kate erzählt er erstmals, dass er Katja geheiratet hätte, wäre sie nicht ums Leben gekommen. Ein Schock für Kate, die sich getäuscht fühlt. Mit jedem Tag graben sich Kate und Geoff tiefer in ihre eigene Gedankenwelt ein und entfernen sich voneinander. Die zwei Menschen, die seit 45 Jahren miteinander leben, scheinen sich plötzlich nicht mehr zu kennen.

Der erst 42-jährige Andrew Haigh, verantwortlich für die HBO-Serie »Looking«, beweist mit »45 Years«, dass er auch so etwas wie Independent Cinema machen kann. Sein Film bietet kein Eventkino, sondern lebt von den stillen Momenten, in denen er seine Intensität und erzählerische Dichte entwickelt. Ein weiteres Plus: Mit Charlotte Rampling und Tom Courtenay bekommt dieser Wettbewerb zum ersten Mal Figuren, die so etwas wie Tiefe und Substanz haben; und die am Ende die Frage umtreibt, ob sie sich nicht ein Leben lang etwas vorgemacht haben.

★★★½

Die Frau, die mit den Männern geht

Tiefe und Substanz vermisst man schmerzlich in Werner Herzogs Wüstendrama »Queen of the Desert«. Darin gibt Nicole Kidman als Gertrude Bell die weibliche Variante von Lawrence von Arabien; und eine neue Variante der weiblichen Abenteuerlust zu Isabel Coixets Festival-Opener »Nobody Wants the Night«. Während Juliette Binoche von Isabel Croixet auf Kufen durch die eisige Einöde Grönlands geschickt wurde, setzt Werner Herzog seine Hauptdarstellerin auf ein Dromedar und lässt sie kreuz und quer durch die steinige Wüste im Nahen Osten reiten. Allerdings sind Gertrude Bells größte Herausforderung nicht die Herausforderungen der Natur, sondern die britischen Diplomaten.

Keine geringere als Nicole Kidman verkörpert die Rolle der heimlichen »Queen of the Desert«. Damit ist die unabhängige Archäologin, Schriftstellerin und Orientalistin Gertrude Bell gemeint, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Wüstenregionen zwischen der Levante und dem Golf von Aden bereiste und die dort siedelnden Stämme und Völker so gut kannte, wie kaum ein anderer Mensch aus der westlichen Welt. Bell hat Anfang des 20. Jahrhunderts Winston Churchill bei der Grenzziehung im Nahen Osten beraten und somit wesentlich zur Umgestaltung der arabischen Halbinsel beigetragen. Ob sie dabei tatsächlich die beste Beraterin gewesen ist, darf mit der heutigen Kenntnis angezweifelt werden.

In Herzogs Beitrag begleitet man die emanzipierte Heldin auf ihren Reisen zu den Beduinen und Volksstämmen, die sie mit Mitbringseln und ihren Arabischkenntnissen von ihren guten Absichten überzeugt. Zwischendurch verliebt sie sich zweimal sehr unglücklich (James Franco, Damian Lewis) und muss immer wieder gegen die britischen Interessen ankämpfen. Dazu kommt noch die Begegnung mit dem wirklichen Lawrence von Arabien (Robert Pattinson), deren Bedeutung aber wie so vieles in diesem Film ein Rätsel bleibt. Wer auf mehr Handlung in den gut zwei Stunden hofft, muss hier leider enttäuscht werden.

Bis zum Ende des Films bleibt außerdem unklar, ob er nun eine historisch korrektes Porträt von Gertrud Bell, eine Hommage an den Islam als Kultur der Poesie, ein dramatischer Abenteuerfilm oder eine Romanze sein soll. Man fühlt sich – es ist einem fast unangenehm, einen Film von der Galionsfigur des Neuen Deutschen Kinos damit zu vergleichen – zuweilen an das Historienkino des ZDF mit Veronica Ferres in der Hauptrolle der starken, aber leidenden Heldin erinnert. Das geht sogar so weit, dass man manchmal die deutsche Schauspielerin in der Amerikanerin wiederzuerkennen meint, wenngleich diese im Film betont, dass sie ganz froh ist, keine Deutsche zu sein.

Warum ausgerechnet die kühle Europäerin Gertrude Bell in dieser männerdominierten Welt ein deutlich besseres Verhältnis zu den arabischen Führern aufbauen konnte und als Frau problemlos »mit den Männern« ging, wäre interessant zu erfahren gewesen. Aber eine Antwort auf diese Frage bleibt Herzogs Film schuldig. Außer einiger pathetischer Allgemeinplätze wie »Mein Herz gehört niemandem mehr, nur der Wüste« oder »Wer von der Wüste getauft ist, für den gibt es keine andere Erlösung« erfährt der interessierte Zuschauer auch wenig über die besondere Liebe der Bell zur Wüste. Derart inszeniert kann auch eine Nicole Kidman die Hauptrolle trotz ihrer exaltierten Anlage nicht retten. Die Gertrude Bell, die uns begegnet, bleibt blass und gekünstelt, auf das »Mannsweib«, das in der ersten Szene angekündigt wird, wartet man einen ganzen Film lang vergeblich. So geht diese Geschichte in dem Sandsturm unter, in dem Werner Herzogs Crew gedreht hat – was zumindest einige aufsehenerregende Bilder sichert. Der Film ist zum Heulen, aber wie man im Film lernt, hat das auch etwas Gutes: »Wer viel heult, muss weniger pinkeln!«

★★

Eine Rose für die Filmleute

Bei dem iranischen Regisseur Jafar Panahi, der mit seinem Film »Taxi« zum dritten Mal bei der Berlinale zu Gast ist und 2006 mit »Offside« sowie 2013 mit »Closed Curtain« einen Silbernen Bären gewann, geht es vor allem darum, dass er, mit Berufsverbot und Hausarrest belegt, überhaupt noch Filme dreht. In den vergangenen Jahren hat er sich dafür Einiges einfallen lassen. Entweder er bezeichnet seine Filme einfach nicht als Film (»Dies ist kein Film«) oder er schließt sich mit seiner Crew heimlich in ein Strandhaus ein und verarbeitet die iranische Wirklichkeit in einem Kammerspiel (»Closed Curtain«).

Für seinen diesjährigen Wettbewerbsbeitrag hat er sich als Fahrer in ein Taxi gesetzt und eine kleine schwenkbare Kamera – eine »Alarmanlage«, wie es zu Beginn ironisch heißt – auf dem Armaturenbrett installiert. So konnte er sowohl die Begegnungen und Gespräche in seinem Taxi als auch die Geschehnisse vor der Frontscheibe einfangen. Natürlich ist das Ganze inszeniert, also keine Dokumentation; was den appellatorischen Charakter des Films nur mehr steigert. Denn Panahi diskutiert hier »in a rolling nutshell« die Probleme der iranischen Gesellschaft in etwas mehr als 80 Minuten.

Zu Beginn sieht man, wie eine Minute lang das alltägliche Leben in Teheran an der Windschutzscheibe eines an einer Ampel wartenden Taxis vorüberzieht. Dann steigen ein Mann und eine Frau ein, die miteinander zu streiten beginnen. Der Mann fordert angesichts der allgegenwärtigen Kriminalität, dass einfach mal ein paar Diebe gehängt werden sollten, um als abschreckende Beispiele zu dienen. Die Frau empört sich und entgegnet, das davon doch nichts besser werde und es Umstände gebe, in denen Menschen aus Alternativlosigkeit zu Verbrechern werden. Während der Diskussion klingt eine Schieflage im Verhältnis zwischen Männern und Frauen im Iran an. Am Ende stellt sich heraus, dass der Verfechter der vorauseilenden Todesstrafe selbst ein Straßenräuber ist. Es sind solche Absurditäten, die Panahi einfängt und die seine Filme ausmachen. Wie bei Kafka schwingt dabei etwas Bitteres, aber auch Komisches mit. Satire nennt sich diese Kunst, die uns über die grausamsten Wirklichkeiten immer noch lachen lässt.

Im Kern ist »Taxi« aber nicht nur das satirische Porträt einer Gesellschaft im ständigen Ausnahmezustand, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten als Künstler im Iran. Dies ist ebenso einfach wie grandios inszeniert. Panahi holt seine Nichte aus der Schule ab und unterhält sich mit ihr über ein Schulprojekt. Sie soll einen »zeigbaren« Film drehen, der die strengen Vorgaben des iranischen Staats einhält. Gesellschaftliche Probleme darf er nicht zeigen, die islamischen Regeln muss er einhalten und Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind auch tabu. Einige andere Vorgaben kommen noch hinzu, was dazu führt, dass die verbleibenden Möglichkeiten nichts mehr mit der Wahrheit zu tun haben. Und weil das nicht nur im Drehbuch von »Taxi« so ist, sondern auch in der Wirklichkeit, muss man solch »unzeigbare Filme« wie diesen neuen von Panahi sehen, will man etwas über die innere Verhasstheit des Iran erfahren.

Am Ende von »Taxi« liegt »eine Rose für die Filmleute« auf der Ablage des leerstehenden Autos, in das zwei Geheimdienstler einbrechen, um die Kamera zu entwenden. Die Speicherkarte jedoch bekommen sie nicht. Der Triumph des Künstlers, in Berlin kann man ihm bei diesem sehenswerten Film gerade beiwohnen.

★★★

Geschwisterliebe, Geschwisterhass

In der Sektion Perspektive Deutsches Kino eröffnete Tom Sommerlattes Spielfilm »Im Sommer wohnt er unten« am Freitagabend das Festival. Matthias (Sebastian Fräsdorf) und David (Godehard Giese) könnten als Brüder unterschiedlicher nicht sein. Während es sich der lethargische Matthias im Sommerhaus seiner Eltern mit seiner französischen Freundin Camille (Alice Pehlivanyan) häuslich eingerichtet hat, versucht Matthias sein Glück leidlich an der Börse, worunter allerdings seine Beziehung mit Lena (Karin Hanczewski) leidet.

Weil David seinen Urlaub mit Lena eigenwillig nach vorn verlegt hat, treffen die beiden Paare im Sommerhaus aufeinander. David und Camille, beide aufbrausend und dominant in ihren Beziehungen, geraten sofort aneinander. In den gemeinsamen Tagen verschieben sich allerdings die Kräfteverhältnisse zwischen und in den Paaren, lange gärende Probleme fordern ihren Tribut.

Der Debütfilm des deutschen Regisseurs Tom Sommerlatte ist von beeindruckender Souveränität und wohl eine der wenigen Ausnahmen, in denen umgesetzte Sprachenvielfalt der Akteure gewinnend zur Dramaturgie des Films beiträgt. Die vier Schauspieler harmonieren wunderbar miteinander, die Dynamik am Set ist auf der Leinwand spürbar.

★★★

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