Full Metal Jacket ist der meistüberschätzte Film von Stanley Kubrick
Stanley Kubrick drehte nach „Shining“ gleich noch eine Art Horrorfilm – und kam nach „Apocalypse Now“ und „Platoon“ zu spät mit seinem auf englischem Industriegelände und mit Kunstpalmen gedrehten Vietnam-Albtraum.
Als „Full Metal Jacket“ 1987 in die Kinos kam, hatte Stanley Kubrick bereits sieben Jahre keinen Film mehr gedreht. Nach „Barry Lyndon“ (1975), einem dreistündigen historischen Sittengemälde, das mit eindrucksvoll gefilmten tableaux vivants und niemals zuvor inszenierten Szenen bei Kerzenlicht vor allem die Kritik begeisterte, das Publikum aber nach dem Leinwandepos „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968) und der kontroversen Gewaltmeditation „Uhrwerk Orange“ (1971) aufgrund seiner lakonischen Erzählhaltung eher langweilte, kam mit „Shining“ (1980) der große Erfolg zurück. Nur Stephen King gab schmollend Interviews, dass er mit Kubricks Adaption seines Schockers nichts anfangen könne.
Auch dieser Film geriet zum Erfolg mit Ansage: Nach „Wege zum Ruhm“ war Kubricks Versuch, in „Full Metal Jacket“ den Vietnam-Konflikt zu dramatisieren, bereits der zweite große Kriegsfilm (nimmt man einmal die Kalter-Krieg-Komödie „Dr. Seltsam“ von 1964 aus). Doch im Gegensatz zu dem subtilen Macht-Drama mit Kirk Douglas in der Hauptrolle verliert sich „Full Metal Jacket“ darin, die Gräuel der Militärschlachten irgendwo zwischen Satire und Horrorfilm einzurahmen. Natürlich ist die erste halbe Stunde, die zeigt, wie Rekruten knallhart ausgebildet und zu Tieren degradiert werden, brillant. Kubrick fand mit dem früheren Militärausbilder R. Lee Ermey die perfekte Besetzung. Seine geifernd-funkelnde Rhetorik und Kampfdoktrin in eine eiserne Körperhaltung übersetzende Bewegungsenergie erzeugen einen unheimlichen, auch komischen Schauer.
„Full Metal Jacket“ ist kein politischer Film
Der Sprung in ein in England notdürftig auf einem Industriegelände nachgestelltes Vietnam fällt aber narrativ enttäuschend aus; die Schilderung des Kriegsreporteralltags bleibt seltsam zahnlos und die bitter-zynische Abrechnung mit einer Nation, die im Grabenkampf mit dem Kommunismus einen völlig aussichtslosen Konflikt mit Waffengewalt niederzuschlagen versucht, erscheint niemals politisch virulent zu werden. Kubrick, ansonsten immer am Puls der Zeit gewesen, verlor sich zum ersten Mal in seiner Karriere in der eigenen, zunehmend anachronistischer werdenden Vorstellungswelt.
Kein Wunder: Der Regisseur kam nach „Die durch die Hölle gehen“ (1978) und „Platoon“ (1986) einfach zu spät, außerdem hatte Francis Ford Coppola mit „Apocalypse Now“ (1979) schon den fiebrigen Vietnam-Horror gedreht, der im Grunde Kubrick vorbehalten war. So blieb dem Amerikaner im englischen Exil nichts anderes übrig, als ein paar Kunstpalmen zu pflanzen, die selben zwei Hubschrauber und Panzer, die gemietet waren, auf trickreiche Art und Weise in unterschiedlichsten Variationen zu filmen und mit einem allerdings immer noch atemberaubenden Schluss die völlige Verrohung der Soldaten zu dokumentieren.
Seinem Gesamtwerk konnte er damit aber zumindest ideologisch keine neue Stoßrichtung geben. Insgesamt ist der moralische Unterbau mit seiner skeptischen Dekonstruktion der wankelmütigen conditio humana längst durchsichtig geworden. Kubricks filmische Thesen waren bekannt – und das 80er-Publikum ignorierte sowieso tendenziell jede Botschaft, die sich hinter manch grellen Bildern verbargen.
Ein Film über den Kriegsfilm
„Full Metal Jacket“ gilt dennoch als Klassiker des Anti-Kriegsfilms, obgleich sich der 1999 gestorbene Filmemacher immer dafür ausgesprochen hat, ihn als Kriegsfilm zu bezeichnen. Denn jede Darstellung von Krieg könne zwar die Sinnlosigkeit des Gemetzels verhandeln, diene aber trotz des subversiven Anspruchs letztlich als Gewaltpornographie für die (vor dem Kampf gelangweilten) Marines.
Und so ist die größte Stärke von „Full Metal Jacket“ auch seine größte Schwäche: Statt einen zeitgenössischen Film über den Vietnamkrieg zu erzählen, beschränkt sich Kubrick auf den irr gewordenen Blick von Private Pyle (der Jack Nicholsons Fratze des Wahnsinns aus „Shining“ unfreiwillig komisch Revue passieren lässt), die Hasstiraden des gnadenlosen, bis zur Parodie verzerrten Ausbilders Sgt. Hartman und eine Auseinandersetzung mit den Bildern des Krieges, wie sie im Kino und Fernsehen inzwischen zur Gewohnheit geworden waren.
Stanley Kubrick hatte seit „Lolita“ (1962), seinem ersten Meisterwerk, mit jedem weiteren Film den Versuch unternommen, auch die Regeln und Gebräuche des von ihm besetzten Genres mit den spekulativen Mitteln des audiovisuellen Erzählens zu brechen oder manchmal gar ironisch zu erweitern. Metareflexivität, also die bloße Spiegelung dieser Genretendenzen, lag ihm fern. Doch „Full Metal Jacket“ ist genau das: ein Film über den Kriegsfilm.
Das reichte, um im Fernsehen bis in alle Ewigkeit wiederholt zu werden, auch weil der Kriegsfilm neben Thriller, Western und Romantic Comedy stets ein zuverlässiges Publikum findet. Im Vergleich zu „Wege zum Ruhm“ (1957) und anderen Monolithen des Genres wie „Im Westen nichts Neues“ (1930), „Barfuß durch die Hölle“ (1959), „Komm und sieh’“ (1985) und „The Hurt Locker – Tödliches Kommando“ (2008) fällt die philosophische Tiefe gegenüber den spektakulären und natürlich immer noch dringlichen Bildern aber deutlich ab. Zum Schluss geht es mit Micky Maus in die Nacht.
Ein Artikel aus dem RS-Archiv