U2: ‚Songs Of Innocence‘ – Track-by-Track-Review
Elf neue Songs von U2: Wie gelungen ist "Songs Of Innocence"? Die Review, Track by Track.
„Lasst uns herausfinden, warum wir überhaupt in einer Band sein wollten, die Beziehungen in und außerhalb der Band, unsere Lieben, unsere Familie. Die ganze Platte dreht sich um erste Reisen: geographische, spirituelle, sexuelle. Das war eine harte Angelegenheit. Aber wir haben das alles erforscht.“ – Im Exklusiv-Interview mit dem amerikanischen ROLLING STONE sprach Bono von der Entstehung des neuen Albums „Songs Of Innocence“, das die Band am Dienstagabend (9. September) völlig überraschend veröffentlichte. Die neue Single „The Miracle (Of Joey Ramone)“ stellten U2 beim Launch des neuen iPhone 6 vor.
War der Album-Vorgänger „No Line On The Horizon“ (2009) vor allem den Weltreisen gewidmet, dreht sich „Songs of Innocence“ nun um die frühen Erfahrungen der Band, als einem die Türen noch nicht offen standen.
Wie klingt „Songs Of Innocence“? Die Track-by-Track-Review:
1. The Miracle (Of Joey Ramone). Tatsächlich waren Bono und Ramones-Frontmann Joey Ramone, der im Jahr 2001 verstarb, gegenseitige Bewunderer ihrer Musik. Auf dem Sterbebett soll Ramone den U2-Song „In A Little While“ oft gehört haben; nach Joeys Tod haben die Iren bei Konzerten das Lied meist dem Punk-Rocker gewidmet. „The Miracle (Of Joey Ramone)“ als schnellen Punksong zu arrangieren, wäre tatsächlich etwas zu billig gewesen – kurioserweise ist dies gar die langsamste Vorabsingle von U2 überhaupt geworden. Midtempo, Fuzzgitarre, laute Handclaps, ein Stomp, Bono singt: „a song that made some sense out of the world“ – und erzählt die Geschichte seiner Jugend. Leider benutzt Bono hier wieder seinen Stadion-Chorgesang aus dem Baukasten, er setzt auf Stimmenfang. Die Natürlichkeit von „Pride (In The Name Of Love)“ fehlt.
2. Every Breaking Wave. Dieses Lied muss die höchsten Erwartungen wecken, allein der Songtitel kursiert seit „No Line On The Horizon“ von 2009, als U2 bereits an einem neuen Werk namens „Songs of Ascent“ arbeiteten. Hier an die prominente Position zwei gesetzt, wird es sich bei „Every Breaking Wave“ voraussichtlich um die zweite Single der Platte handeln. Dieses Stück würde sich dann mit „Get On Your Boots“ um den Titel der bisher schlechtesten U2-Single streiten. Wellen, Wasser, auf und ab, Metaphern für die Liebe, ein Chorus wie ein Schlager, „If You Go Your Way, And I Go Mine“, The Edge spielt synchron zu Adams Bass, kein Platz für ein ordentliches Solo – nicht gut. „We are so helpless against the tides“, „Stop chasing every breaking wave.“ Auf Position zwei hätte wohl eher „Invisible“ gut getan, aber die gelungene Frühjahrs-Single fand auf diesem Album keinen Platz mehr.
3. California (There Is No End To Love). Einer der besten Song-Anfänge der Band bisher. Bono huldigt den Beach Boys, seine Chorstimme wechselt von „Santa Barbara“ zu „Ba-Bab-Barbara“ und fließt hinein in ein Rocklied, das in Tempo und Druck an „City Of Blinding Lights“ erinnert. Hier hören wir auch das erste richtige Solo von The Edge auf dem Album. Der Zeiger auf „Songs Of Innocence“ dreht sich wieder nach oben, auch wenn beim Klang der Keyboards kurz ein unangenehmer Geruch von den Black Eyed Peas in die Aufnahmen geweht sein muss.
4. Song For Someone. Eines der wenigen U2-Songs ab 1987, die mit einer Akustikgitarre beginnen. Bono kreiert eine Fallhöhe, in dem er auf die Unschuld der Angebeteten verweist, im Vergleich zu seiner eigenen Verwundung: „You Got A Face Not Spolit by Beauty / I Have Some Scars From Where I’ve Been“. The Edge singt im Background – klassisches Songmaterial für die Rundbühne in der Stadionmitte, wenn zu zweit eine Lagerfeuer-Session simuliert wird. „There Is A Light, Don’t Let It Go Out“. Könnte live dann in „Where The Streets Have No Name“ übergehen.
5. Iris (Hold Me Close). Beginnt ja wie alles auf „Ghost Stories“ von Coldplay! Die berüchtigten „Klangteppiche“ setzen ein, Glühwürmchen fliegen durch den Wald usw. Dabei ist „Iris“ quasi der Abschluss einer Trilogie: nach „I Will Follow“ und „Mofo“ der dritte Song über den Tod von Bonos Mutter. War „I Will Follow“ noch ein verzweifeltes Lied und „Mofo“ pure Aggression, ist „Iris“ ein eher tröstliches Anliegen. The Edge spielt wieder wie auf „The Unforgettable Fire seine Arpeggios. Eine Markenzeichen-Nummer. Dennoch das zweite gute Stück auf „Songs Of Innocence“. Erst das zweite von schon fünf, oh weh.
6. Volcano. Stimmt, die Platte wurde ja auch von Danger Mouse eingerichtet! Hier kommt der Einfluss des Produzenten, matter Sound, Hervorhebung von Bass und Schlagzeug, voll zur Geltung. Ein Blick in die Credits zeigt jedoch: Der Song wurde gar nicht von Danger Mouse produziert, sondern von Paul Epworth. Dennoch: bester Song der Platte, eine Garage-Nummer im Stil von „Vertigo“ mit Schwanz auf dem Tisch, wenn auch nicht ganz so dirty wie „Vertigo“. Anwärter für die dritte Single.
7. Raised by Wolves. Piano und Zupfgitarre bauen Spannung auf, Bono singt von den Schrecken der Zivilisation, Krieg und Hass, und welche unkontrollierte Stärke in der Natur liegt: „Raised By Wolves / Stronger Than Fear“. Mindestens ein politisches Lied pro Platte gehört bei U2 dazu. Dieses wird nach Abschluss der kommenden Tournee sicher nie wieder live gespielt werden.
8. Cedarwood Road. Hier ist Bono in Dublin aufgewachsen. The Edge spielt eine Glamrock-Melodie á la „Breathe“, Bono erzählt von seinen Ängsten als Jugendlicher, und welche Eindrücke sich in ihm festgesetzt haben, Spaziergänge mit Mädchen und der Anblick der Natur, aber auch die Verwirrungen – es handelte sich um eine „war zone in my teens“. Das vierte gute Lied auf der Platte, allerdings gibt es hier eine Schere zwischen der vom Sänger suggerierten Unsicherheit der Jugend und dem optimistischen, geradezu gockelhaften Ton der Gitarre.
9. Sleep Like a Baby Tonight. Beginnt mit einer für U2 ungewohnten Stakkato-Keyboardmelodie, die die Band wohl als ihren Kraftwerk-Einfluss bezeichnen würde. Klassische Ballade im letzten Album-Drittel, aber sie funktioniert: Nach „Volcano“ das zweitbeste Stück der Platte. Glockenspiel und Fuzzgitarre ergänzen sich perfekt, besonders gelungen ist das – viel zu selten! – von U2 arrangierte instrumentale Outro, in dem The Edge ein unentschlossenes, abgebrochenes, tolles Solo spielt. So dunkel wie einst „Love Is Blindness“. Vier von bisher neun Songs schonmal im Plusbereich.
10. This Is Where You Can Reach Me Now. Möglicherweise der Song, den U2 selbst als ihren experimentellsten auf der Platte kennzeichnen möchten. Der Lo-Fi-Sound und das Disco-Arrangement erinnern an Bands wie Kaisers Chiefs und Franz Ferdinand. Der Titel hat jedoch nichts mit dem unseligen Trend der Neuzeit zu tun, nicht mehr persönlich, sondern nur noch über soziale Medien erreichbar zu sein. Eher ein Statement, das das Recht der Jugend anspricht, sich von älteren Generationen nicht bevormunden zu wollen. Die Dringlichkeit wirkt inszeniert.
11. The Troubles. Erstmals seit „The Wanderer“ von 1993, als Johnny Cash Gaststar war, teilt Bono sich auf einem U2-Album das Mikro. Lykke Li macht mit, Bono singt „Your’re Not My Troubles anymore“, Lykke ergänzt „Somebody stepped inside your Soul“. Hier geht es wohl um das Recht auf Vergessen, „somebody else is in control“. Vielleicht auch darum, dass Bono nicht mehr die Sorge um Frieden in der Welt auf seinen irischen Schultern tragen möchte. Man kann das alles selbstgerecht finden, aber es ist wohl auch sein erstes Lied über Kontrollverlust.