Locas in Love Studiotagebuch III: Our Descent Into Madness
Die Kölner Indieband Locas In Love auf den Spuren ihrer Helden: Mit Paul Savage (Ex-Delgados) nehmen sie in Glasgow ihr neues Album auf. Für uns berichten sie exklusiv von ihrer Reise und aus den Studios des Chemikal Underground-Labels.
Björn Sonnenberg (Gesang, Gitarre), Stefanie Schrank (Bass, Gesang, Keyboards), Jan Niklas Jansen (Gitarre) und Christian Schneider (Drums, Glockenspiel, Percussion) sind zusammen Locas In Love. Die Kölner fuhren Anfang 2010 nach Glasgow, um mit Paul Savage den Nachfolger ihres letzten Studioalbums „Saurus“ aufzunehmen. Dafür befanden sie sich in den Studios des Labels Chemikal Underground, dem wir neben den Delgados z. B. auch Mogwai und Aereogramme verdanken. Björn Sonnenberg hat exklusiv für uns Tagebuch geführt. Ein wunderbarer, unterhaltsamer Textwust, der auf tragikkomische Weise die Ereignisse erzählt, die zur Entstehung des Albums „Lemming“ führten. (Alle Teile finden Sie in der Spalte „Artikel“ rechts neben dem Text.)
3. Überfahrt. Ladies & Gentlemen, we will shortly begin our descent into madness.
Über Nacht ist viel Schnee gefallen, wir wagen nicht, darüber nachzudenken, ob die Fähre gestrichen wird aus Angst vor unserer eigenen Macht, den Lauf der Welt mit unseren Abwägungen und Grübeleien zu beeinflussen. Das Frühstücksbuffet gehört uns ganz alleine, irgendwo kräht ein aufgekratzter Hahn. Niklas und ich laufen los, weil kein Taxi angefahren kommen will, um im Schnee die kurze Strecke zu fahren. Schoudermantel 35 ist die Adresse, es ist wirklich nicht weit. Fast überall, wo wir laufen, sind unser beider Spuren im Schnee die einzigen Anzeichen, daß hier Menschen gehen.
Am Autodepot angekommen wird die Tür vor unserer Nase geschlossen: ein Notfall in Sachen Abschleppe, wir sollen in einer Stunde wieder kommen. Wir sind zu ausgebrannt, um noch irgendetwas ernst zu nehmen. Mit dem überlegen-leeren Lächeln, das Leuten eigen ist, die nichts mehr zu verlieren haben und einem erschöpften Schulterzucken tapern wir unbeeindruckt davon, einen Geldautomaten suchen. Man kann kein Geld mehr abheben. Zumindest nicht wir und nicht hier, vermutlich wurden unsere Konten leergeräumt. Solche Dinge passieren wirklich, vor ziemlich genau einem Jahr besorgte sich jemand scheinbar aus dem Internet meine gesamten Kreditkartendaten, um sich beim Modekontor Conley’s für 800 Euro Trenchcoat und Hemden nach München zu bestellen. Bis dahin glaubte ich, solche Dinge fänden nur in TV-Verbrauchermagazinen statt. Egal. Alles wird sich lösen. Muß!
Der neue Wagen ist ein Opel Zafira, warum auch nicht. Im Kofferraum liegt der gesuchte Adapter für den Anhänger, später gestehen Niklas und ich einander, beide als ersten Gedanken einen späteren Diebstahl gehabt zu haben. Zurück im Hotel ruhen wir noch eine Stunde und machen uns zeitig auf den Weg. Zu unserer eigenen Überraschung passiert nichts, nach etwa einer Dreiviertelstunde parken wir an erster Position in der Schlange vor unserem Schiff, der Princess Of Norway und gehen am Ufer spazieren. Es kostet wider erwarten keinen Aufpreis, heute zu fahren statt wie gebucht gestern, nur Geld abheben geht nach wie vor nicht.
Während die Sonne untergeht öffnet sich der Schiffsbauch und lädt alle Reisenden in sein Inneres ein wie der Walfisch einst den Jona. Als vorletzte werden wir angewiesen einzufahren, point of no return hiermit erreicht.
Wir beziehen unsere Kabinen und erkunden heiter das riesige Schiff, es inspiriert mich, es als Revell-Modell nachbauen zu wollen. Die Passage ist erst aufregend, irgendwann wird sie lang und der Seegang ist eine Herausforderung. Mitgliederstatistik: ¼ übergeben sich, 2/4 elend, ¼ hysterisch-überdreht, sonderbar: auf Niklas hat die Seefahrt keine negativen Auswirkungen, dabei bin ich es, der einen nautischen Hintergrund hat (mein verstorbener Großvater hatte eine Ankertätowierung auf dem Unterarm und einen Onkel, der Kapitän war, was ihm wiederum reichte, um sich in ähnlicher Weise zum Seemann zu stilisieren wie ich selber soeben).
Es gibt an Bord ein mordsmäßiges Programm: ein Conferencier, der wie ein strenger, melancholischer und dürrer Meister Proper aussieht, eine Coverband aus Bulgarien, eine Tanz-Zauber-Akrobatiktruppe aus Ungarn und Sean aus Amerika mit der Akustikgitarre. Ein Gruselkabinett, das die undankbare Aufgabe hat, Publikum zu bespielen, das sich nur zu ihnen verirrt hat um der Seekrankheit zu entgehen, die in den Kabinen wahrnehmbar stärker wirkt als in den großen Räumen oder gar an Deck. Wir fürchten und respektieren sie gleichermaßen, eine Art Liebe, die so manchen Performer und sein Publikum verbindet (Gwar, Alice Cooper, Rockbitch, Stan der Erschrecker, D. Copperfield, Mario Barth usw).
Die Nacht ist schneller durchgestanden als befürchtet, die Körper waren durch die beschwerliche Reise, Übelkeit und das schwere Essen des nicht ganz so guten wie teuren Schiffsbuffets matt. Das Einlaufen in den Hafen von Newcastle ist ebenso majestätisch wie das Verlassen des Amsterdamers, ah herrlich, für einen so schönen Anblick lohnt sich fast alles auf sich zu nehmen. Wir sind, das sagen wir gerne, ganz große Panoramafreaks (nicht aber: Jesus-Freaks. Ein guter Witz, gez: BS). Die meisten Rockbands finden am besten 1. sich selber, 2. live spielen, 3. ihre Fenns. Wir finden am besten: schöne Landschaften, gutes Essen und im Proberaum herumstehen. Das erklärt evtl. erstens unseren Reiz, zweitens das Erfolgslevel, auf dem wir operieren.Der Zoll winkt uns desinteressiert durch, wir entern Großbritannien. Überdreht und ehrfürchtig rufen wir: God save the queen for Locas In Love. Wir sind fast da, endlich.
Björn Sonnenberg