„Jahars Welt“ – Die Titelgeschichte des US-Rolling-Stone in deutscher Übersetzung
Der US-Rolling-Stone sorgte mit dem Cover seiner aktuellen Ausgabe für internationale Aufregung. Auf Basis einer ausführlich recherchierten Geschichte wurde der „Boston-Bomber“ Dzhokhar Tsarnaev auf dem Cover abgebildet. Lesen Sie hier die ganze Titelgeschichte von US-Autorin Janet Reitman - erstmals in der deutschen Übersetzung.
Selten hat eine Rolling-Stone-Geschichte solche Wellen geschlagen wie die über den mutmaßlichen US-Terroristen Dzhokhar Tsarnaev. Vor allem das umstrittene Titelbild der US-Ausgabe, das den „Boston-Bomber“ in einer Porträt-Aufnahme zeigt, wurde weltweit kontrovers diskutiert und die US-Redaktion reagierte mit einer Stellungnahme. Dass hinter all der Aufregung ein gutes Stück investigativer Journalismus steckt, zeigt die Reportage von Janet Reitman, die wir hier in deutscher Übersetzung dokumentieren:
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Jahars Welt
Von Janet Reitman
Er war ein freundlicher Junge, dem die Zukunft offenzustehen schien. Doch niemand bemerkte den Schmerz, der sich hinter der einnehmenden Fassade verbarg, niemand sah das Monster, in das er sich bald verwandeln sollte.
Am 19. April 2013 wachte Peter Payack morgens um 4 Uhr auf und sah auf seinem Fernseher das körnige Foto eines Jungen, der gerade aus einem Minimarkt ging und dabei von der Überwachungskamera gefilmt wurde. Der Junge, als „Suspect # 2“ vorgestellt, kam dem Ringkampf-Coach der „Cambridge Rindge and Latin School“ irgendwie bekannt vor. Andererseits gab es allein in Boston und Umgebung sicher Millionen hagerer Kids mit grauen Hoodies und leicht fremdländischen Gesichtszügen. Und die halbe Stadt war vermutlich felsenfest davon überzeugt, den Verdächtigen zu kennen. Payack, der bei dem Marathonlauf nahe der Ziellinie stand und durch die Explosion einen Großteil seiner Hörkraft eingebüßt hatte, konnte seit vier Tagen kaum noch schlafen. Aber er war auch zu aufgewühlt, um wieder ins Bett gehen zu können. Später am Morgen erhielt er einen Anruf von seinem Sohn. Der Junge in dem Foto? „Dad, das ist Jahar!“
„Es war, als habe eine Kugel mein Herz durchbohrt“, erinnert sich Payack. „Die Vorstellung, dass ein Junge, den wir unterstützt und wie einen Sohn geliebt haben, für all dieses Morden verantwortlich war … es war mehr als nur ein Schock. Es war, als sei man in eine alternative Realität transportiert worden.“
Für die Nachbarn und Bekannten in Cambridge war der 19-jährige Dzhokhar Tsarnaev – „Jahar“ für seine Freunde – ein umgänglicher, gut aussehender, etwas zerzauster Junge mit verträumten brauen Augen und einer scheuen, zurückhaltenden Art – „der Kumpel-Typ, zu dem man spontan einen Draht hat“, wie es einer seiner Freunde beschreibt. Er war seit zwei Jahren „Captain“ im Ring-Team der Schule und glänzte auch mit akademischen Leistungen. Darüber hinaus war er für seine Freunde „just a normal American kid“ – verrückt nach Fußball, HipHop und Girls, nach TV-Serien wie „The Walking Dead“ und „Games of Thrones“ und nicht zuletzt auch nach substanziellen Mengen von Gras.
Payack starrte auf seinen Fernseher und versuchte, den Bombenleger Dzhokhar, der für diesen unbeschreiblichen Terror verantwortlich war, mit dem Teenager in Einklang zu bringen, der eine Ringer-Jacke mit dem eingestickten Schriftzug „Jahar“ trug, die er praktisch nie ablegte. Noch am gleichen Nachmittag sprach Payack mit CNN und nutzte das Interview, um einen direkten Appell an den Flüchtling zu richten: „Jahar, dies ist Coach Payack. Es hat schon genug Tod und Zerstörung gegeben. Bitte stell dich der Polizei.“
Zu diesem Zeitpunkt lag Jahar Tsarnaev blutend auf dem Boden eines sieben Meter langen Segelbootes, das in Watertown, einer Vorstadt von Cambridge, im Garten eines weißen Schindeldach-Hauses abgestellt war. Kurz nach Mitternacht war er in dem Schusswechsel mit der Polizei verletzt worden, bei dem sein 26-jähriger Bruder Tamerlan ums Leben gekommen war. 18 Stunden lang sollte er nun noch im Boot liegen. Während es an diesem verregneten Tag nur zögerlich hell wurde, durchkämmten mehrere Tausend Polizisten ein Areal mit 20 Straßenzügen und wurden kurz nach 18 Uhr endlich fündig. Es sollte noch drei weitere Stunden dauern, bis ihn FBI-Unterhändler zur Aufgabe bewegten.
Am folgenden Morgen erhielt Payack eine SMS von einem FBI-Agenten, der in der „Crisis Negotiating“-Einheit beschäftigt war. Er hatte Payacks Appell im Fernsehen gesehen und berichtete, dass er seinen Namen im Gespräch mit Jahar fallen ließ. „Ich glaube, dass es hilfreich war“, schrieb der Agent. Payack war erleichtert. „Vielleicht hat es bei Jahar ja wirklich etwas ausgelöst“, sagte Payack, „vielleicht sah er in sich den Märtyrer, der für eine gerechte Sache stirbt. Doch dann hört er plötzlich eine Stimme aus der Vergangenheit – aus einem Umfeld, das er geschätzt hat und in dem er sich wohlfühlte –, und es traf bei ihm einen Nerv.“
Als die Ermittler endlich das Boot betraten, entdeckten sie auf der Wand eine gekritzelte Botschaft, mit der sich Jahar als überzeugter Dschihadi zu erkennen gab. In der Anklageschrift, die Ende Juni fertiggestellt wurde und 30 Punkte umfasst, heißt es, dass sich Jahar zum Attentat bekannte, auch wenn er einräumte, den Tod unschuldiger Menschen nur ungern in Kauf genommen zu haben. Aber „schließlich ermordet die amerikanische Regierung auch unschuldige Leute bei uns“ – womit er offensichtlich auf die muslimische Zivilbevölkerung in Irak und Afghanistan anspielte. „Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, dass dieses Verbrechen ungesühnt bleibt … Wir Muslime sind ein einziger Körper. Verletzt du einen von uns, verletzt du alle“, fuhr er fort und benutzte dabei ein Bildnis, das von militanten Islamisten inzwischen so häufig verwendet wird, dass es bereits zum Klischee erstarrt ist. Um dann von der genormten Argumentation aber doch wieder abzuweichen und ein Statement zu hinterlassen, das an seinen Prioritäten keinen Zweifel ließ: „Fuck America.“
In den zwölf Jahren seit 9/11 hat es mehr als 25 Versuche amerikanischer Staatsbürger gegeben, ein Attentat gegen die USA zu verüben. Meist waren es amateurhafte Planspiele, die oft genug sogar von Undercover-Agenten forciert wurden, indem sie potenziellen Attentätern Waffen und andere Hilfsmittel in Aussicht stellten. Ein paar von ihnen – die geplanten Bombenschläge auf die New Yorker U-Bahn und am Times Square – waren hingegen professionell geplant und hätten katastrophale Folgen haben können. Doch nichts Derartiges passierte – bis zum 15. April 2013, als zwei Druckkocher-Bomben in der Boylston Street explodierten, gleich neben der Ziellinie des Marathonlaufs. Drei Menschen wurden getötet, darunter ein achtjähriger Junge, knapp 300 Passanten durch Bombensplitter verletzt. Viele von ihnen verloren ein Bein, einen Arm oder ein Auge. Der Tatort ähnelte einem Blutbad, wie man es sonst nur von Bildern aus Bagdad, Kabul oder Tel Aviv kennt.
Als durchsickerte, dass die Tsarnaev-Brüder offensichtlich keiner Terror-Organisation angehörten, sondern auf eigene Faust gehandelt hatten, schien das die sublime Panik in Boston nur noch zu verstärken. Nach ihrer Emigration aus Russland hatten die Brüder ein Jahrzehnt lang in Amerika gelebt – obendrein im liberalen Cambridge, das sogar eine eigene „peace commission“ hat, die den sozialen Frieden auch für Minoritäten gewährleisten soll. Tamerlan, von seinen US-Freunden „Tim“ genannt, war ein talentierter Boxer, der sich Hoffnung gemacht hatte, die USA bei den Olympischen Spielen vertreten zu können. Sein Bruder Jahar hatte ein Stipendium für die „Dartmouth“-Uni bekommen und spielte mit dem Gedanken, Ingenieur zu werden. Oder Krankenpfleger. Oder vielleicht auch Zahnarzt – seine Berufspläne änderten sich ständig. Ja, sie waren gläubige Muslime, aber sie waren auch Amerikaner – allen voran Jahar, der am 11. September 2012 offiziell eingebürgert wurde.
Seit dem Attentat haben sich Freunde und Bekannte der Brüder, aber auch FBI und andere Ermittler, intensiv darum bemüht, das psychologische Puzzle der Brüder zusammenzusetzen. Man hat sich dabei vorwiegend auf Tamerlan konzentriert, der auf Beobachtungslisten der Amerikaner und Russen stand, auch wenn FBI oder CIA keine konkrete Veranlassung sahen, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Jahar stand auf keiner Beobachtungsliste, im Gegenteil: Nachdem ich monatelang Freunde, Geistliche und Lehrer interviewt habe – die noch immer damit kämpfen, den Schock zu verdauen –, entsteht das Porträt eines Jungen, der reibungslos durch sein bisheriges Leben glitt und absolut keine Anzeichen von Furor zeigte, ganz zu schweigen von radikalen politischen Ideologien oder tief gefühlten religiösen Überzeugungen.
Als er am 10. Juli dem Gericht in Boston vorgeführt wurde – und sich in allen Anklagepunkten für „nicht schuldig“ erklärte –, lächelte er, gähnte, hing lässig auf seinem Stuhl und machte nicht den Eindruck, als habe er seine Situation bis in die letzte Konsequenz verstanden. Manchmal schien er gar abfällig zu grinsen – wobei es eigentlich kein „Grinsen“ war, wie seine Bekannten betonen. „Er wirkte eher wie der alte Jahar, dem gerade durch den Kopf geht: ,Was zum Teufel hab ich hier eigentlich verloren?‘“, sagt Payack, der den Gerichtstermin vor Ort verfolgte.
Es war Coach Payack gewesen, der Jahar den Vorschlag gemacht hatte, seinen Vornamen Dzhokhar mit dem simpleren, cooler klingenden Jahar zu ersetzen. „Wenn er auch nur ansatzweise radikale Ideen im Kopf gehabt hätte – warum hätte er seinen Namen geändert, damit ihn mehr Kids in seiner Schule aussprechen können?“, fragt ein Freund, der damit eine weitverbreitete Meinung in Jahars Bekanntenkreis wiedergibt. „Ich kann mich einfach noch immer nicht mit dem Gefühl anfreunden, dass der Jahar, den ich kenne, ein Terrorist gewesen sein soll“, sagte ein anderer.
„Es gibt Kids, die durch die Ritze fallen, ohne dass wir sie auffangen können“, sagt Payack, „aber dieser Junge war wie aus einem Guss – so rund wie eine Billard-Kugel. Er hatte keine Risse, keine Bruchstellen.“ Und doch befand sich unter dieser Fassade offensichtlich ein tief verunsicherter Junge, der all die Bemühungen seiner Eltern miterlebt hatte, ihrer Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, aber auch die Verbitterung, als die Versuche fehlschlugen und ihre Träume in immer weitere Ferne rückten. So wie jeder kleine Fehlschlag die Familie belastete – und sie schließlich zerstörte –, so trug er auch zu Jahars psychischer Destabilisierung bei – wie eine Schlagabfolge unspektakulärer und doch wirksamer Körpertreffer. Doch niemand nahm die Wirkung bewusst wahr. „Ich kannte diesen Jungen – und er war ein guter Junge“, sagt Payack, „aber offensichtlich hatte er auch das Zeug zum Monster.“
Auch wenn Dzhokhar Tsarnaev vorwiegend in Amerika aufwuchs, liegen seine Wurzeln doch im Nord-Kaukasus, der seit Jahrhunderten für seine politische Instabilität berüchtigt ist. Am 22. Juli 1993 geboren, verbrachte er die ersten sieben Jahre in der zentralasiatischen Republik Kirgisien, wo sein Vater Anzor im Exil aufgewachsen war. Anzor stammt aus Tschetschenien, der gewalttätigsten aller ehemaligen Sowjet-Republiken, deren Bewohner seit dem 18. Jahrhundert praktisch ununterbrochen gegen die Russen Krieg führen. Dzhokhars Mutter Zubeidat ist eine Avar, die im überwiegend muslimischen Dagestan zu Hause sind. Wie das benachbarte Tschetschenien hat auch Dagestan seit dem späten 18. Jahrhundert für die Unabhängigkeit vom russischen Reich gekämpft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärten tschetschenische Separatisten die Republik für autonom – was zwei brutale Kriege zur Folge hatte, in deren Verlauf die russische Armee Zehntausende Tschetschenen tötete und die Hauptstadt Grosny dem Erdboden gleichmachte. 1999 stand in der gesamten Region, Dagestan inklusive, die Gewalt auf der Tagesordnung.
Obwohl der Islam die dominierende Religion im nördlichen Kaukasus ist, spielte sie im Leben von Anzor Tsarnaev allenfalls eine untergeordnete Rolle. Er ist ein zäher, drahtiger Mann, der während der sowjetischen Besatzung groß wurde, als jegliche religiöse Betätigung in Kirgisien praktisch untersagt war. In Dagestan, wo der Islam stärkere Wurzeln geschlagen hat, tragen viele Frauen die traditionelle Hidschab. Zubeidat hingegen zeigte ihre Haarpracht und hatte obendrein eine Kurzhaar-Frisur wie Pat Benatar. Die beiden begegneten sich, als Anzor noch Jura studierte. Am 20. Oktober 1986 wurde geheiratet – und bereits am folgenden Tag kam ihr erstes Kind zur Welt. Auf Tamerlan folgten drei weitere – alle in Kirgisien geboren, wo Anzor in der Hauptstadt Bischkek eine Anstellung als Ermittler der Staatsanwaltschaft gefunden hatte.
Es war eine durchaus respektable Position, zumal für einen Tschetschenen, doch Anzor hatte weitergehende Ambitionen. Er hoffte, seine Familie nach Amerika bringen zu können, wo sein Bruder Ruslan als Anwalt arbeitete und sich eine Existenz in der oberen Mittelschicht aufbaute. Als Russland 1999 in Tschetschenien einmarschierte, verlor Anzor seinen Job, weil auch in Kirgisien gebürtige Tschetschenen aus allen politischen Ämtern entfernt wurden. Die Tsarnaevs flohen in Zubeidats Heimat Dagestan, wo sie der Krieg aber schnell einholte. Im Frühjahr 2002 flogen Anzor, Zubeidat und der achtjährige Jahar mit einem Touristen-Visum in die USA und beantragten politisches Asyl. Die drei Geschwister Ailina, Bella und Tamerlan blieben derweil bei Verwandten zurück.
Im ersten Monat kamen die Tsarnaevs im Haus von Dr. Khassan Baiev unter, einem tschetschenischen Arzt und Freund von Anzors Schwester. Baiev erinnert sich daran, wie Anzor vom Leben in Kirgisien erzählte. Er sei ständig diskriminiert worden, „Prügel eingeschlossen“. Dieser Tatbestand war denn auch die Grundlage ihres Asylantrages, dem ein Jahr später entsprochen wurde. Im Juli 2003 kam der Rest der Familie nach und bezog in Cambridge ein kleines Apartment – in der Norfolk Street Nr. 410. Es war ein heruntergekommenes Gebäude in einer Gegend, die ansonsten schon ein Musterbeispiel für Sanierung und Gentrifizierung war.
Es gibt im Großraum Boston nur eine Handvoll tschetschenischer Familien – und die Tsarnaevs wurden mit offenen Armen empfangen. „Sie hatten wunderbare Kinder“, erinnert sich Anna Nikeava, die sich mit den Tsarnaevs umgehend anfreundete. „Sie waren so süß, wie knuffelige Kätzchen, alle vier. Und sie küssten und umarmten sich ununterbrochen.“ Auch die Eltern schienen glücklich zu sein und sich blendend zu verstehen, obwohl Anzor, der nur ein gebrochenes Englisch sprach, für zehn Dollar pro Stunde als Automechaniker arbeiten musste. Im ersten Jahr erhielten die Tsarnaevs daher eine zusätzliche Unterstützung vom Staat. Und doch schienen sie nie ums Überleben kämpfen zu müssen, sagt Anna. „Sie waren so ineinander verliebt und genossen einfach ihr Leben. Es machte Spaß, mit ihnen zusammen zu sein.“
Tschetschenische Familien schätzen die Tradition. Anna, eine liebenswürdige, gesprächige Frau Ende vierzig, erklärt mir, dass in ihrer Heimat „Frauen auf keinen Fall Hosen tragen“ und der Ehepartner unbedingt aus dem gleichen Kulturkreis stammen muss. In dieser Beziehung fielen die Tsarnaevs völlig aus dem Rahmen. Zubeidat war eine „sehr aufgeschlossene, moderne Frau“, die modische Jeans, Stöckelschuhe und kurze Röcke liebte. „Sie hatte sich die Augenbrauen eintätowieren lassen und trug auch permanentes Make-up – richtig glamourös“, erzählt Anna. „Und auch die Kinder waren immer hübsch angezogen.“
Zubeidat vergötterte ihre Kinder – besonders Tamerlan, ihren großen, muskulösen Jungen, den sie mit Herkules verglich. Im Gegensatz dazu war Jahar ihr Baby, das „dwog“ – oder Herz –seiner Mutter. „Er sah wie ein kleiner Engel aus“, sagt Anna. „Alle nannten ihn nur ,Jo-Jo‘ oder ,Ho‘.“ „Er sagte immer nur ,Mommy, Mommy, yes, Mommy‘, selbst wenn seine Mama einmal böse mit ihm war“, erinnert sich Annas Sohn Baudy Mazaev, der eineinhalb Jahre jünger ist als Jahar. „Er war immer dieses sanfte, ruhige, gehorsame, butterweiche Kind. Meine Mutter sagte mir ständig: ,Warum kannst du mit mir nicht so sprechen wie Dzhokhar mit seiner Mutter?‘“
In ihrem Freundeskreis gab es fünf, sechs tschetschenische Jungs im gleichen Alter, aber Baudy und Jahar entwickelten spontan eine besonders enge Freundschaft. Baudy, inzwischen Student an der Boston University, erinnert sich an Besuche in der beengten Tsarnaev-Wohnung, die sich in der obersten Etage des Hauses befand. Jahar und Tamerlin teilten sich ein kleines Zimmer mit Etagenbett, während die beiden Schwestern in einem noch kleineren Zimmer auf einer Matratze schliefen. Da am kleinen Küchentisch für die komplette Familie kein Platz war, spielten die Jungs ständig Cowboys und Indianer oder hockten sich vor den riesigen Fernseher im Wohnzimmer, um sich in Videogames zu vertiefen. Die Eltern saßen derweil am Tisch, aßen zu Abend und unterhielten sich. Anzor war berühmt für sein polterndes Lachen – eine Eigenart, die Jahar von ihm erben sollte. „Er lachte so laut, dass man es in der ganzen Wohnung mitbekam“, sagt Baudy.
Jahar verehrte Tamerlan und ließ sich von seinem älteren Bruder zu einem Besuch im Box-Studio überreden. Doch es sollte das Ringen sein, das ihm – wie auch Baudy – ans Herz wuchs. Baudy, kräftig gebaut, war allerdings in einer anderen Gewichtsklasse als Jahar, der gerade mal 60 Kilo auf die Waage brachte. „Das muss Tschetschenen wohl im Blut liegen“, sagt er. „Als ich einmal in die alte Heimat fuhr, um meine Cousins zu besuchen, sagten sie als erstes: ,Willste vielleicht ’nen kleinen Ringkampf?“
Baudy ist extrem stolz auf seine Herkunft – und Jahar, der seinen Vornamen mit Tschetscheniens erstem Präsidenten Dzhokhar Dudayev teilt (eins von Anzors großen Idolen), stand ihm in nichts nach, wenn es um den „Stolz der Tschetschenen“ ging. Er liebte den Wolf, das Wappentier des Landes, lernte traditionelle Tänze und spricht ebenso gut Tschetschenisch wie Russisch. Er sprach sogar davon, einmal ein tschetschenischen Mädchen heiraten zu wollen. „Er redete immer davon, wie hübsch doch tschetschenische Mädchen seien“, sagt Baudy, auch wenn er seines Wissens nie eins kennenlernte – die Schwestern ihrer Bekannten einmal ausgenommen.
Es gab unzählige Jahars in Cambridge – Kinder von Einwanderern, die nur noch eine vage, wenn auch oft idealisierte Vorstellung ihrer Heimat haben. Die Stadt – für ihre Liberalität und überdurchschnittliche Bildung gerühmt – ist gleichzeitig auch eine der ethnisch und ökonomisch divergentesten Städte im ganzen Land. Auf der „Cambridge Rindge and Latin School“, der einzigen städtischen Highschool, sind über 50 Nationalitäten vertreten. Das Motto der Schule – „Opportunity, Diversity, Respect“ – ist auf Wänden, Gemälden und Prospekten omnipräsent und wird auch ständig über die Interkom der Schule verbalisiert. Rund 45 Prozent der Schüler leben in städtischen oder finanziell bezuschussten Wohnungen, überwiegend in den traditionellen Arbeitervierteln der Stadt. Es gibt betuchtere Stadtteile, in denen meist die Professoren leben, die in Harvard oder dem MIT unterrichten. Auch ihre Kinder besuchen „Rindge“, „aber ihre Zahl hält sich in Grenzen“, wie Dr. Jeffrey M. Young sagt, der Superintendent von Cambridges Schulen. „Es gibt hier einige politisch stark engagierte Familien“ – wie die ihrer populärsten Schulabgänger Matt Damon und Ben Affleck –, „aber es überwiegen die Schüler, die kein Sprachrohr haben. Wir ermutigen sie, selbst ihre Stimme zu finden.“
Alle Tsarnaevs besuchten „Rindge“, aber es war Jahar, der sich am problemlosesten integrierte. Obwohl er bei seiner Ankunft in Amerika kein Wort Englisch sprach, war bei seinem Eintritt in die Highschool nur noch der Hauch eines Akzents zu hören. Er trug auslatschte Puma-Schuhe, warf beim Basketball exzellente „three-pointer“ und entdeckte die Freuden des Marihuana. (Was in Cambridge nicht schwer fiel: Gras wird auf der Toilette der Highschool gehandelt und kann auf der Straße geraucht werden, ohne mit ernsthaften Problemen rechnen zu müssen.) Er war ein aufmerksamer Schüler, der im zweiten Schuljahr sogar für die „National Honor Society“ nominiert wurde. Zur gleichen Zeit stieg er beim Ringkampf-Team der Schule bei. „Er war einfach ein Naturtalent“, sagt Coach Payack und erinnert sich daran, dass Jahar ein Teamplayer war und selbst das härteste Training ohne Murren durchzog. Im dritten Highschool-Jahr wählte ihn das Team zum Captain. Zu diesem Zeitpunkt kannten ihn alle nur noch als „Jahar“.
„Ich hab lange gebraucht, seinen Namen zu lernen“, sagt Larry Aaronson, ein pensionierter Geschichtslehrer von „Rindge“, der auf der gleichen Straße wie die Tsarnaevs lebt. „Ich fragte ihn einmal, woher er komme. ,Tschetschenien‘, sagte er. Ich sagte: ,Tschetschenien? Mein Gott. Wie bist du denn mit diesem ganzen Stress fertig geworden?‘ Und er meinte: ,Larry, deswegen kamen wir ja nach Amerika – und wir hatten das Glück, gerade in Cambridge zu landen.‘ Er liebte die Stadt, die Schule, die ganze Kultur hier – er tauchte mit Begeisterung in sie ein. Und das machte ihn mir so sympathisch: Er war das klassische Kriegskind, das alles, was wir ihm bieten konnten, mit offenen Armen annahm, um sein Leben neu gestalten zu können. Und ein blendend aussehender Junge war er obendrein.“
Jahars Freunde waren bunt gemischt. Sie kamen aus reicheren und ärmeren Stadtvierteln – Schwarze, Weiße, Juden, Katholiken, Puertorikaner, Bangladeshi. Sie waren, wie mir die Eltern eines Freundes sagten, „the good kids“: Bücherwürmer oder Sportskanonen, oft in der studentischen Selbstverwaltung engagiert, manchmal auch Nerds, die später die Elite-Universitäten an der Ostküste besuchen sollten. Jahar selbst erwähnte „Brandeis“ oder „Tufts“, erzählt einer seiner Freunde, den wir hier Sam nennen wollen. (Alle seine Freunde sprachen mit dem ROLLING STONE unter dem Vorbehalt, ihre Identität nicht zu lüften.) „Er war einer der bodenständigsten Jungs, die ich je getroffen habe. Er war der Erste, den man anrief, wenn man jemanden um einen Gefallen bitten wollte. ,Klar, Mann, bin gleich da‘, sagte er, selbst wenn man ihn mitten in der Nacht aus dem Bett klingelte und er völlig von der Rolle war.“
„Er war absolut cool“, sagt ein anderer Freund namens Will und erinnert sich an eine Silvesternacht, in der Jahar acht oder neun Leute in seinen grünen Honda Civic packte – einen davon in den Kofferraum. Natürlich hielt sie die Polizei prompt an, doch Jahar war ungerührt. „Selbst wenn man ihn mit Alkohol im Blut erwischte“, erzählt sein Freund Jackson, „blieb er immer der abgeklärte Junge, der genau weiß, wie man mit der Polizei zu sprechen hat.“
Und er hatte einen moralischen Kompass – da sind sich alle einig. „Er machte niemanden böswillig an“, sagt Sam – und erwähnt, dass Jahar ebenfalls ein talentierter Boxer gewesen sei. „Er konnte sogar besser boxen als ringen – er war ein echtes Tier.“ Aber auch wenn er in der Lage war, so ziemlich jeden auszuknocken, machte er davon nie Gebrauch. „Jegliche Gewalt war ihm abhold – das ist ja das Verrückte.“
„Er war einfach super-locker drauf“, meint Alyssa, die ein Jahr jünger als Jahar ist. Die Girls fanden ihn eigentlich alle toll, doch selbst wenn er sich mal in ein Mädchen verguckt hatte, hielt er sich immer unter Kontrolle. „Er sagte dann immer: ,Chill, chill – es reicht doch, wenn wir zusammen ausgehen‘“, erzählt Sam und erinnert sich an Jahars Aversion, überhaupt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen zu müssen. „Er war einfach bescheiden – das ist wohl der beste Weg, ihn zu beschreiben.“
Cara, eine lebhafte, hübsche Blondine, in die er sich laut Aussage einiger Freunde wohl verguckt hatte, betont hingegen, dass sie nur befreundet gewesen seien. „Er war so süß – fast schon zu süß“, sagt sie. Die beiden gingen zusammen zur „driver’s ed“, der Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung, und hatten dabei ständig Gelegenheit, einen Joint durchzuziehen oder einfach nur abzuhängen. Jahar, sagt sie, habe ein bemerkenswertes Talent gehabt, sich in verschiedenen sozialen Gruppen bewegen zu können – und dabei für die Probleme der jeweiligen Gruppe immer ein offenes Ohr zu haben. „Er ist ein echtes Goldstück, wirklich ein guter Typ, der mit allen klarkam“, sagte sie. „Es ist schwer, ihn wirklich zu erklären – er war halt ein Cambridge-Kid.“
Cambridge-Kids, da sind sich alle Freunde einig, haben ein relativ nonchalantes Verhältnis zu Dingen, die andere Leute schnell auf die Palme bringen. Vor ein paar Jahren etwa entschloss sich einer der Freunde, zum Islam zu konvertieren – was einige, wie Clara beispielsweise, absolut cool fanden, während andere, wie Jackson, nur mit einem Kopfschütteln quittierten. „Aber das war nun mal die Art von Highschool, die wir alle besuchten“, sagt Jackson. „In diesem Umfeld kann jemand ganz entspannt sagen: ,Ich konvertier zum Islam‘ – und in seinem Bekanntenkreis heißt es nur: ,Okay. Cool.‘“ Tatsächlich, erwähnt er am Rande, konvertierten damals sogar einige ihrer Bekannten. „Es war wohl für eine Weile einfach angesagt.“
Jahar hatte nie geleugnet, ein Muslim zu sein, obwohl er die Bedeutung manchmal gerne herunterspielte. Im Ramadan fastete er und verzichtete auch auf Pot – was für ihn wohl eine besonders harte Prüfung darstellte. „Aber die einzige Bemerkung, die er jemals zum Thema Religion machte, war: ‚Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen‘“, sagt Alyssa. „Vielleicht war er ja religiös“, meint Jackson, „aber wenn er’s dir nicht auf die Nase gebunden hätte, hättest du davon nichts bemerkt.“
Vor ein paar Jahren besuchte ein Mitglied des Ringer-Teams, ebenfalls ein Muslim, eine Gebetsgruppe, die sich gelegentlich in der Highschool traf. Er war überrascht, auch Jahar dort anzutreffen. „Ich wusste nicht, dass er ein Muslim war, bis ich ihn dort beim Freitags-Gebet sah. Wir hatten vorher nie darüber gesprochen.“
Sein Freund Theo, ebenfalls ein Ringer, hatte indes einen etwas anderen Eindruck: „Ich glaube schon, dass er den Islam durchaus verehrte.“ Vor einigen Jahren gab es einen Vorfall, bei dem Jahar sichtlich ungehalten war, als James – der konvertierte Freund – allzu salopp über seinen Glauben sprach. „Er wurde zwar nicht wütend, fuhr ihm aber über den Mund“, erinnert sich Theo. „Und es zeigte mir, dass er seine Religion durchaus ernst nahm. Es war für ihn keine halbherzige Sache.“
Und trotzdem „ging nie ein Alarmlämpchen an“, wie es eine Geschichtslehrerin formuliert, die angesichts des brisanten Falles ebenfalls anonym bleiben möchte. In ihrer Klasse, bei den Schülern seit Jahren enorm beliebt, sind hitzige Diskussionen zu zeitgenössischen Themen wie Globalisierung oder der Krise im Mittleren Osten sogar erwünscht, doch Jahar, sagt sie, gestattete nie Einblicke in seine persönliche Positionen, „selbst wenn ich ihn explizit dazu aufforderte“. Alyssa, die von der Klasse begeistert war, stimmt ihr zu: „Eine der Fragen, die wir diskutierten, war: ,Was ist Terrorismus? Wie können wir als Amerikaner mit diesem Phänomen umgehen? Was motiviert Terrorismus – und gibt es ein Argument, ihn moralisch zu rechtfertigen?‘ Nicht einmal meldete sich Jahar zu Wort, um sich für Terrorismus auszusprechen.“
Mit einer Ausnahme.
„Bei einer Gelegenheit“, sagt Will, „erwähnte er mir gegenüber, dass gewisse terroristische Aktionen gerechtfertigt seien.“ Sie waren in ihrem dritten Jahr auf der Highschool – und Jahar saß mit Will, Sam und ein paar anderen Freunden in einer Kaschemme namens „Izzy’s“ und diskutierte über Religion. Zum ersten Mal ließ er sich dezidiert zum Thema Islam aus: Er hasse die Leute, die in ihrer „Ignoranz“ Islam und Terrorismus in einen Topf werfen würden. Seine Religion propagiere den Frieden – und der „Jihad“ sei nichts weiter als ein innerer Kampf. „Ich erinnere mich“, so Will, „dass ich ihm damals sagte, dass gewisse Aspekte des Islams sehr wohl gewalttätig seien – und erwähnte in diesem Zusammenhang auch 9/11.“
Worauf Jahar ihm gesagt habe, dass er über das Thema nicht weiter sprechen möchte. Will fragte nach dem Grund. „Er sagte: ,Nun, weil du meine Position nicht mögen wirst.‘ Als ich nicht locker ließ, sagte er, dass einige Anschläge durchaus gerechtfertigt seien, wenn man berücksichtige, was die USA in anderen Ländern anrichten würden – und dass sie inzwischen ja ständig Bomben auf unschuldige Menschen werfen.“
Will und andere betonen aber gleich, dass sich Jahars Position eigentlich kaum von den meisten ihrer Bekannten unterschied. „Ich würde sagen, dass er in punkto Politik genauso anti-amerikanisch war wie andere Cambridge-Kids auch“, sagt etwa Theo. Trotzdem verzichtete Will lieber darauf, das Thema weiter zu forcieren. „Ich dachte mir: ,Wow, der Bursche scheint ja tatsächlich Terrorismus entschuldigen zu wollen. Ich werd mir dieses Gespräch künftig ersparen.“
Das Thema kam nie wieder auf den Tisch.
Im Rückblick könnte Jahars Kommentar über 9/11 als das gesehen werden, was professionelle Fall-Analysten gemeinhin als „Leck“ bezeichnen – ein kleiner Riss in einer ansonsten kunstvoll gepflegten Fassade. Wird dieser Riss bemerkt – was oft genug nicht der Fall ist –, liefert er einen Schlüssel in das Innenleben der analysierten Person. „Wenn ich Leute interviewte, versuchte ich mich von der äußeren Ebene nicht ablenken zu lassen, sondern zu dieser inneren Persönlichkeit vorzustoßen“, sagt Tom Neer, ein pensionierter Agent, der in der FBI-Abteilung „Behavioral Analysis“ arbeitete und nun für die „Soufan Group“ tätig ist, die die US-Regierung zum Thema Counter-Terrorismus berät. „Die meisten Leute haben eine öffentliche Persona und eine private Persona, aber dazwischen gibt es auch noch eine versteckte Ebene. Und diese geheime Nische wird gewöhnlich hartnäckig verteidigt.“
Es gab natürlich viele Aspekte in Jahars Leben, die seinen Freunden und Lehrern verborgen blieben – was gerade bei Einwanderer-Kinder nicht ungewöhnlich ist, die fast schon ein Doppelleben führen, weil sie ständig zwischen ihrem ethnischen Ich und dem amerikanischen Ich oszillieren. „Ich hab nie seine Eltern gesehen und wusste nicht mal, dass er einen Bruder hat“, sagt Payack, der sich wunderte, warum niemand aus der Familie bei Jahars Ring-Wettkämpfen erschien – ganz im Gegensatz zu den anderen Familien. „Wenn du der große Bruder bist und deinen kleinen Bruder liebst – ist es dann nicht die normalste Sache der Welt, ihn bei einem Wettbewerb anzufeuern?“
Theo stellte sich eine ähnliche Frage. „Ich sprach ihn einmal darauf an, und er sagte mir, dass er früher geboxt und nie einen Kampf verloren habe. Er wolle deshalb nicht, dass sein Vater Zeuge würde, wie er einen Ringkampf verliert.“ Es klang durchaus plausibel: Jahar war als Ringer absolut vielversprechend, investierte aber nie die Zeit, um seine Talente zu fördern. „Er hatte das Ringen einfach nicht in der Optik“, sagt Theo. Und schien auch nicht darunter zu leiden, wenn er einmal einen Kampf verlor. „Andere Kids flippen dann schnell aus“, sagt Payack. „Sie behaupten, der Schiedsrichter habe eine falsche Entscheidung getroffen und schmeißen dann schnell mal mit einem Stuhl um sich. Oder sie hocken sich in die Ecke und heulen.“ Jahar sei in solchen Situationen immer achselzuckend von der Matte gegangen. „Sein Gesichtsausdruck schien zu sagen: ,Nun ja, ich hab’s zumindest versucht.‘“
In der „Senior Night“, dem letzten Wettbewerb der letzten Highschool-Saison, bringt jeder „Rindge“-Ringer ein Elternteil oder einen anderen Verwandten mit, der ihn zur Mitte der Turnhalle führt, wo ein Foto gemacht wird und der Schüler eine Blume erhält. Jahar kam alleine. „Einer unserer Coaches ging mit ihm hinaus und übergab ihm die Blume“, sagt Payack. Aber auch dieser Vorfall schien Jahar nicht weiter zu irritieren – und wenn er’s doch tat, so ließ er sich nichts anmerken. „In unserem Freundeskreis musste man nicht gleich dem anderen sein Herz ausschütten, nur um dazu zu gehören“, sagt Jackson.
Jahars Familie schien in einem völlig separaten Universum zu existieren. Jackson, der in der Nähe wohnte, sah Anzor gelegentlich, wie er vorm Haus an einem Auto schraubte. Die beiden Schwestern kannten einige der Freunde, wenn auch nur auf dem Umweg über die beiden Brüder. Natürlich kursierten diverse Anekdoten über Tamerlan, den zweifachen „Golden Glove“-Champion, doch praktisch niemand hatte ihn persönlich kennengelernt. Und die Wohnung der Tsarnaevs hatte ohnehin keiner der Klassenkameraden je betreten. „Nie – nicht ein einziges Mal“, sagt Jackson. Eine Freundin von Jahars älterer Schwester Bella ließ verlauten, das Haus in der Norfolk Street 410 habe den Ruf, „von Außenstehenden gemieden zu werden“.
Es gab verschiedene Hinweise, dass die Probleme der Tsarnaev-Familie tiefer saßen als die unvermeidliche Akklimatisierung an den american way of life. Anzor, der mit chronischer Arthritis, Kopfschmerzen und Magenkrämpfen zu kämpfen hatte, hatte ein unkontrollierbares Temperament – was er selbst als Spätfolge des Spießrutenlaufes erklärte, den er in Kirgisien über sich ergehen lassen musste. Auf einen Nachbarn in der Norfolk Street wirkte er wie ein „miserable guy“, der sich mit Anwohnern über einen Parkplatz stritt oder einem Nachbarn gar die Schneeschaufel aus der Hand riss, weil er überzeugt war, der Mann könne nicht vernünftig schaufeln. Nichtsdestotrotz war er ein unglaublich harter Arbeiter. „Ich erinnere mich noch an seine Hände“, erzählt Baudy. „Er schraubte in der eisigen Kälte Bostons an den Autos rum, ohne Handschuhe – und er hatte durch seine Arthritis schon dicke Knubbel an seinen Gelenken. Aber er liebte seine Arbeit. Er sah es als seine Pflicht an, die Familie zu versorgen.“
Zubeidat, eine geschäftstüchtige Frau, arbeitete zunächst als häusliche Krankenhilfe, wechselte dann in einen Kosmetiksalon, wo sie sich auf Gesichtspackungen spezialisierte, um wenig später auf eigene Kasse zu arbeiten. „Sie wollte sich nie auf etwas festlegen“, sagt Baudy, der Jahars Mutter durchaus mochte, in ihr aber eine typische Karrieristin sah. „Sie wollte einfach schneller zu Geld kommen. Bei ihr hieß es immer: ,Ach, das ist mir alles zu mühselig. Ich versuch einfach mal was anderes.“
Aber das Geld wollte sich einfach nicht einstellen. Im Jahre 2009 ging es Anzor gesundheitlich immer schlechter – und im August, nach fünfjähriger Pause, sahen sich die Tsarnaevs gezwungen, wieder öffentliche Unterstützung in Form von „food stamps“ und anderen Zuschüssen zu beantragen. Die Unfähigkeit, seine Familie uneingeschränkt versorgen zu können, mag das verstärkt haben, was in ihrem Umfeld als seine generelle „Schwäche“ wahrgenommen wurde. Auch wenn er der Vater und Haushaltsvorstand war, so ordnete er sich doch nur allzu schnell Zubeidat unter, die in ihrer dominanten Rolle geradezu aufging.
Sie mochte eine liebevolle Mutter sein, „wollte aber einfach keinen guten Rat annehmen, wenn‘s um ihre Kinder ging“, sagt Anna. „Sie glaubte, es seien die hübschesten und intelligentesten Kinder in der ganzen Welt“ – Tamerlan allen voran. „Um ihn drehte sich alles in der Familie. In gewisser Weise übernahm er die Vaterrolle. Was immer er sagte, wurde auch so getan.“
Tamerlans Erfahrungen in Cambridge waren weitaus weniger positiv als die von Jahar. Bei seiner Ankunft in Amerika war er bereits ein Teenager, sprach Englisch nur mit breitem russischen Akzent und konnte sich – auch wenn er in „Rindge“ einen speziellen Englisch-Kurs belegte – nie so recht assimilieren. Er hatte zusammengewachsene Augenbrauen und tat sich immer schwer, Mädchen spontan anzusprechen. Eine frühere Klassenkameradin erinnert sich, dass man zum Abschluss der Highschool versuchte habe, für Tamerlan eine „Prom“-Partnerin zu finden. „Er selbst ließ sich überhaupt nicht blicken“, sagt sie. „Wir waren ein paar Freunde, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, bei einigen Mädchen anzuklopfen und zu fragen, ob sie vielleicht mit ihm zur Prom gehen würden.“ Aber da alle absagten, musste er wohl oder übel alleine gehen.
Nachdem er 2006 sein Highschool-Diplom erhalten hatte, schrieb er sich auf dem „Bunker Hill Community College“ ein, wo er Buchhaltungswesen studierte, nach drei Semestern aber das Handtuch warf. Als talentierter Pianist und Komponist verspürte er eher den Wunsch, Musiker zu werden, träumte letztlich aber davon, als Boxer an den Olympischen Spielen teilzunehmen, um anschließend eine Profi-Karriere einzuschlagen. Was gleichzeitig auch der Wunsch seines Vaters war, der es in Russland selbst zum Box-Champ gebracht hatte. Offensichtlich verlangte der Vater ihm körperlich alles ab und fuhr sogar mit dem Fahrrad hinter ihm her, wenn Tamerlan zum Trainingslager joggte. Und Tamerlan entwickelte sich unter der Aufsicht seines Vaters prächtig und galt bald als eines der großen Box-Talente in New England. Einem befreundeten Boxer empfahl er einmal, „zu Hause seinen Punch an einem Baum zu trainieren“, wenn er wirklich einmal ein Großer werden wolle. Aber seine Arroganz stand seinen Ambitionen im Weg. 2010 behauptete ein gegnerischer Trainer, Tamerlan habe die ungeschriebenen Gesetze des Amateursportes gebrochen, weil er seinen Gegner vor dem Kampf verhöhnt habe. Der Trainer legte bei der nationalen Box-Behörde Beschwerde ein und forderte zudem, Tamerlan von allen nationalen Wettbewerben auszuschließen, da er kein amerikanischer Staatsbürger sei. Zufälligerweise waren die zuständigen Gremien ohnehin gerade zu dem Entschluss gekommen, Nicht-Amerikaner nicht mehr zum Kampf um einen US-Boxtitel zuzulassen.
Damit waren auch alle Olympia-Hoffnungen hinfällig, da Tamerlan noch nicht berechtigt war, die Staatsbürgerschaft zu beantragen. Sein Onkel Ruslan drängte ihn, der US-Army beizutreten. Die Erfahrung würde ihm eine echte Grundlage geben, sagte er, und obendrein sein Englisch verbessern. „Ich redete auf ihn ein, dass es nur einen Weg gebe, in einem neuen Land Fuß zu fassen – nämlich sich selbst einzubringen.“ Aber Tamerlan habe nur gelacht, weil sein Onkel ihm letztlich ans Herz lege, „unsere muslimischen Brüder zu töten“.
Tamerlan hatte die Religion wiederentdeckt – eine Kehrtwende, die sich ab 2009 vollzog. Zubeidat deutete in mehreren Interviews an, dass es ihre Idee gewesen sei, weil sie Tamerlan, der meist nur mit Freunden in Clubs abhing, davon überzeugen wollte, ein ernsthafterer Mensch zu werden. „Ich sagte Tamerlan, dass wir Muslime seien, aber unsere Religion nicht ausüben würden. Wie können wir uns da Muslime nennen?“ Anna vermutet allerdings, dass noch andere Faktoren in diesen Sinneswandel einflossen. Einmal habe sie eine Bemerkung gemacht, die bei Anna den Eindruck erweckt habe, dass irgendwas bei den Tsarnaevs schieflaufe. „Tamerlan erzählte mir, er habe das Gefühl, als steckten zwei Personen in ihm“, vertraute Zubeidat ihrer Freundin an. „Das ist schon etwas seltsam, oder nicht?“
Da Anna sich fragte, ob Tamerlan eine mentale Störung entwickele, schlug sie Zubeidat vor, einen „Doktor“ aufzusuchen. („Hätte ich ,Psychiater‘ gesagt, wäre sie gleich ausgeflippt.“) Aber Zubeidat war wohl der Meinung, dass der Islam der geeignete Weg sei, um Tamerlans Dämonen zum Schweigen zu bringen. Mutter und Sohn fingen an, gemeinsam den Koran zu lesen – darin bestärkt, so Zubeidat, von einem Mann namens Mikhail Allakhverdov (oder „Misha“), den Tamerlan wohl in einer Moschee in Boston kennengelernt hatte. Der Armenier bestritt energisch, irgendetwas mit dem Bombenanschlag zu tun zu haben. „Ich war nicht sein Lehrer“, sagte er der „New York Review of Books“. „Wäre ich sein Lehrer gewesen, hätte ich sichergestellt, dass er diese Tat nie und nimmer begangen hätte.“ Die Familienangehörigen bestätigten allerdings, dass Allakhverdov ein maßgeblicher Einfluss auf Tamerlan gewesen sei. Er habe sie oft zu Hause besucht und bis in die Nacht mit Tamerlan über Islam und den Koran gesprochen. Onkel Ruslan sagte später der „Daily Mail“, dass sich Allakhverdov „am Küchentisch wie ein Prediger aufführte und Tamerlan ins Gewissen redete. Bei diesen Gesprächen behauptete er auch, mit Geistern reden und den Teufel austreiben zu können“.
Zubeidat zumindest war von seinem Einfluss angetan. „Stör sie nicht“, sagte sie einmal ihrem Mann, als Anzor fragte, warum Allakhverdov um Mitternacht noch immer in ihrer Wohnung saß. „Misha lehrt ihn, ein guter und freundlicher Mann zu sein.“
Es dauerte nicht lang, bis sich Tamerlan von Alkohol und Gras distanzierte, fünf Mal am Tag betete und seinen Gebetsteppich mit ins Box-Studio nahm. Zuhause verbrachte er viele Stunden am Computer, wo er islamische Internetseiten las, aber auch amerikanische „Conspiracy Websites“ wie Alex Jones‘ „InfoWars“. Einem Fotografen, den er zufällig traf, erzählte er, dass er die Amerikaner nicht verstehe und beklagte den Mangel an wahren Werten. Er hörte auch auf, Musik zu hören. „Musik ist etwas, das vom Islam nicht unterstützt wird“, erklärte er. „Misha sagt, dass es nicht gut ist, Musik zu machen oder Musik zu hören.“ 2011 entschloss er sich, auch mit dem Boxen aufzuhören, da er einem Muslim nicht gestattet sei, einen anderen Mann zu schlagen.
Zubeidat öffnete sich ebenfalls zunehmend der Religion – was in ihrer Ehe für Spannungen sorgte, aber auch in dem noblen Salon in Belmont, wo sie arbeitete. Sie begann, ihre Arbeit für die täglichen Gebete zu unterbrechen, und weigerte sich, männliche Kunden zu bedienen. Als sie schließlich gefeuert wurde, eröffnete sie in ihrem Wohnzimmer ihren eigenen kleinen Salon. Eine ihrer früheren Kundinnen erinnert sich, dass sie im Haus „ein Kopftuch“ trug, draußen aber immer ihre Hidschab angelegte. „Sie weigerte sich, männliche Kunden zu empfangen, wenn sie jenseits der Pubertät waren. Ein Geistlicher habe ihr gesagt, dass das eine Gotteslästerung sei.“
Irritierender aber noch als Zubeidats Glaubenseifer empfand die Kundin ihre politischen Ansichten. Während einer Gesichtsmassage habe Zubeidat ihr erklärt, dass hinter 9/11 die Amerikaner steckten, die damit die islamische Welt aufwiegeln wollten. „So ist es wirklich passiert“, sagte sie. „Mein Sohn kennt sich da wirklich gut aus. Man kann das alles im Internet lesen.“
Es war zu diesem Zeitpunkt, dass Jahar seinem Freund Will eröffnete, man könne Terrorismus durchaus rechtfertigen – eine Meinung, die er offensichtlich mit Tamerlan teilte. Ob er tatsächlich alle Ansichten seines älteren Bruders teilte oder nicht: Es lag im Wesen ihrer Beziehung, dass er Tamerlan nie ernsthaft widersprochen hätte. In tschetschenischen Familien, sagt Baudy, „ist der große Bruder vielleicht nicht gleich Gott, aber mehr als ein normaler Bruder“. Als sie noch jünger waren, habe Tamerlan ihnen beispielsweise den Fernseher ausgeschaltet und sie aufgefordert, lieber Liegestützen zu machen. Inzwischen war es der Koran, den er ihnen dringend ans Herz legte.
„Jahar ging es etwas auf den Keks“, sagt Baudy. Er habe es so weit wie möglich zu ignorieren versucht, konnte aber letztlich nichts machen. „Niemand wird sich erlauben, aus der Haut zu fahren oder einem Älteren vorzuschreiben, worüber er spricht –schon gar nicht, wenn‘s darum geht, ein religiöserer Mensch zu werden.“ Baudy erinnert sich an einen Vorfall vor einigen Jahren, als Tamerlan sie beim Internetsurfen entdeckte und ihnen ans Herz legte, sich lieber auf ihren Glauben zu konzentrieren. Er gab ihnen ein Buch – „Islam 101“ – und ermahnte sie, es auch zu lesen. Er gab das gleiche Buch auch James, der – als muslimischer Konvertit – einer der wenigen von Jahars Freunden war, die das Tsarnaev-Haus besuchten. Tamerlan brachte James auch bei, wie er richtig zu beten habe. „Offensichtlich hockten sie da stundenlang“, sagt Sam, der erst nachträglich davon erfuhr. Er konnte sich auf die Vorgänge einfach keinen Reim machen. „Es ist völlig verrückt, weil Timmy vor ein paar Jahren noch einer von uns war – ein ganz normaler Typ, der die Schule besuchte, zum Boxen ging und ständig auf Party machte. Aber dann kam der Einschnitt – und er war gegen alles, was Spaß machte.“
Im Jahre 2011 schienen auch die letzten Erinnerungen an den alten „Timmy“ endgültig getilgt zu sein. Als sein Freund und Sparringspartner Brendan Mess eine Liaison mit einer nicht-praktizierenden Muslimin begann, kritisierte Tamerlan das Mädchen für ihren Mangel an Ehrbarkeit. Und monierte angeblich auch den „lifestyle“ von Mess, der als örtlicher Pot-Dealer bekannt war. Am 11. September 2011, dem zehnten Jahrestag von 9/11, wurden Mess und zwei seiner Freunde Opfer eines grässlichen Mordes, der noch immer nicht aufgeklärt ist. Nach dem Bombenattentat intensivierten die Behörden ihre Ermittlungen, da man vermutete, Tamerlan könne in den Vorfall verwickelt sein – ohne bislang aber konkrete Anhaltspunkte für diese Vermutung zu haben.
„Ich weiß nur, dass Jahar immer auf der Hut war, wenn er stoned nach Hause kam“, sagt Will. „Er wusste genau, wie stinkig Tamerlan reagieren würde. Er war der Typ, der sofort auf 180 war.“
„Und wenn du kein Muslim warst, konnte er noch mehr ausrasten“, ergänzt Sam, der zwar einräumt, ihn nie persönlich getroffen zu haben, aber ständig von Jahar entsprechende Anekdoten hörte. „Ich war irgendwie von dem Typen fasziniert“, sagt Sam. „1 Meter 89, Boxer – ich wollte ihn unbedingt kennenlernen, aber Jahar meinte nur: ,Nee, willst du lieber nicht.‘“
Seine Schwestern erwähnte Jahar nur selten. Ailina und Bella, ein paar Jahre älter als er, hielten sich immer im Hintergrund, hatten aber durchaus auch ihr eigenes Kreuz zu tragen. Sie waren attraktiv, dunkelhaarig und „sehr amerikanisiert“, wie Freunde konstatierten. Sie verehrten Tamerlan – eine Schwester nannte ihn einmal „ihren Helden“ –, waren aber auch Objekt seiner Familien-internen Überwachungstätigkeit. Als ihr Vater hörte, dass Bella in Begleitung eines amerikanischen Jungen gesehen wurde, meldete er sie auf der Highschool ab und beauftragte Tamerlan, den Jungen zu verprügeln. Freunde sahen Bella später mit einer Hidschab. Kurz darauf war sie aus Cambridge verschwunden – genau wie Ailina, die sich wenig später ebenfalls in Luft auflöste. Es hieß, dass beide Mädchen zwangsverheiratet wurden.
Anna Nikeava hatte gar nicht mitbekommen, dass die Mädchen Boston verlassen hatten – und vermutet, dass die Eltern das Thema unter Verschluss hielten, um nicht von Außenstehenden verurteilt zu werden. „Unter der Oberfläche war es letztlich eine verkorkste Familie“, sagt sie. „Sie waren ja auch eigentlich keine Tschetschenen“ – wie sie und die anderen –, „und ich hatte nicht den Eindruck, dass sie von den anderen Familien als Tschetschenen akzeptiert wurden. Sie saßen einfach zwischen allen Stühlen und wussten nicht, wohin sie gehörten. Und der arme Jahar befand sich mitten in diesem Chaos und sagte keinen Ton. Aber tief im Inneren war er verunsichert und verletzt. Sein ganzes Weltbild kam durch die familiäre Situation unter die Räder. Er lernte einfach, sich nie etwas anmerken zu lassen.“
Anzor, der ob des religiösen Eifers seiner Frau und seines älteren Sohnes zunächst perplex, später „deprimiert“ war, zog 2011 nach Russland zurück und reichte erfolgreich die Scheidung ein. Zubeidat wurde wenig später verhaftet, als sie bei „Lord & Taylor“ Kleider im Wert von 1600 Dollar zu stehlen versuchte. Statt das Urteil abzuwarten, ließ sie ihre Kaution verfallen und setzte sich ebenfalls nach Russland ab, wo sie sich kurz darauf mit ihrem Ehemann versöhnte. Jahars Schwestern, ihren Zwangsehen offensichtlich beide entkommen, zogen nach New Jersey und hatten schon länger keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie.
Und auch Tamerlan war inzwischen verheiratet. Katherine Russell, seine Frau, war eine Protestantin, die aus einer betuchten Familie in Rhode Island stammte. Nach der Highschool hatte sie mit dem Gedanken gespielt, dem „Peace Corps“ beizutreten, sich dann aber doch für ein Studium an Bostons „Suffolk University“ entschieden. 2007 lernte sie Tamerlan kennen und sah in ihm einen „großen, attraktiven Mann mit einer bemerkenswerten Weltoffenheit“, wie sich eine Freundin erinnert. Als sich ihre Beziehung vertiefte, hatten ihre Kommilitoninnen allerdings zunehmend den Eindruck, dass Tamerlan einen „dominierenden“ und „manipulativen“ Einfluss auf sie habe. Ihr Argwohn wurde bestätigt, als er von ihr verlangte, sich züchtig zu kleiden und zum Islam zu konvertieren.
Obwohl Katherine nie mit der Presse sprach, ist soviel bekannt, dass sie tatsächlich konvertierte, den Namen „Karima“ annahm, bald schwanger wurde und das College verließ. Im Juni 2010 fand die Hochzeit statt – und wenig später brachte sie ihre Tochter Zahira zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt, sagen Freunde und Familienangehörige, habe sie sich „zurückgezogen“. Sie wurde in Boston gesehen, wie sie in einem Öko-Laden einkaufte, völlig verhüllt und mit einer Hidschab bekleidet. In Anwesenheit ihres Gatten sprach sie nur wenig, und wenn sie einmal allein war, so ein Nachbar, sprach sie langsam und mit einem Akzent. „Mir war nicht mal bewusst, dass sie eine Amerikanerin war“, sagt der Mann.
Jahar bereitete sich inzwischen aufs College vor. Er hatte von der Stadt ein Stipendium in Höhe von 2500 Dollar erhalten, mit dem jährlich 40 bis 50 Studenten aus Cambridge ausgezeichnet werden. Er bekam eine Zusage von mehreren Colleges – unter anderem „Northeastern University“ und „UMass Amherst“ –, entschied sich aber für „UMass Dartmouth“, weil ihm dort ein zusätzliches Stipendium angeboten wurde. „Er wollte seine Eltern nicht in die Situation bringen, für seine Ausbildung Unsummen zahlen zu müssen“, sagt Sam und erwähnt, dass Jahar aus diesem Grund auch nie bei „Brandeis“ oder „Tufts“, seinen Traum-Unis, angeklopft habe, weil dort die Gebühren zu hoch waren. Einige seiner Freunde sollten die renommierteren Colleges besuchen, aber Jahar „akzeptierte seine Situation. Er kam einfach zu der Einsicht: ,Da ich nun mal nicht diese Wahnsinns-Gebühren auftreiben kann, geh ich halt zu dem College, das mir den besten Deal anbietet.‘ Denn wirklich – was für einen Sinn macht es, ein College zu besuchen, das dir jährlich 30.000 Dollar abknüpft? Keinen.“ Sams Freunde sehen das ähnlich.
„UMass Dartmouth“, ein eher mittelprächtiges College, ist 90 Minuten von Boston entfernt und verfügt über ein besonderes Merkmal: das Fehlen jeglicher Identität. „Es ist alles Braun in Braun“, sagt Jackson, „und muss der deprimierendste Campus sein, den ich je gesehen habe.“ Die jährlichen Studiengebühren betragen um die 22.000 Dollar.
Jahar traf im Herbst 2011 ein – und wollte fast umgehend wieder heimfahren. North Dartmouth, wo sich die Uni befindet, ist eine Arbeitersiedlung, in der es praktisch keine Attraktionen gibt außer einer tristen Mall und unzähligen Fast-Food-Buden. Die studentische Bevölkerung ist durchaus bunt gemischt, aber das Level ihrer intellektuellen Neugier schien nicht einmal das Niveau seiner alten Highschool zu erreichen. „Meine Highschool-Essays für die Englisch-Klasse aufzuwärmen # itsthateasy“, twitterte Jahar im November 2011. „Wisst ihr, was ich gern mache? Meine eigenen Fragen zu beantworten, weil sonst niemand dazu fähig ist.“
„Er hasste sein Leben“, sagt Sam. „Er rief ständig an und meinte, er sei in einer Klapsmühle mit lauter Idioten gelandet.“ Der einzige Lichtblick bestand darin, dass sich einer seiner besten Freunde von „Rindge“ auch in Dartmouth immatrikuliert hatte, allerdings schon bald auf ein anderes College wechselte. „Sie taten nichts anderes, als sich ins Auto zu setzen und den Kopf vollzuknallen“, sagt Sam.
An den Wochenenden, wenn es auf dem Campus leer wurde, versuchte auch Jahar, so oft wie möglich nach Hause zu kommen. Wobei sich selbst das „Zuhause“ verändert hatte, seit seine Eltern abgereist waren. Viele seiner engsten Freunde hatten Cambridge ebenfalls verlassen. Tamerlan indes war noch immer da. „Bete“, sagte der ältere Bruder. „Du kannst kein Muslim sein, wenn du nicht fünf Mal am Tag Allah dankst.“
Vieles von dem, was über Jahars Jahre vor dem Bombenanschlag publik wurde, basiert auf Interviews mit Dartmouth-Studenten, von denen aber niemand sonderlich eng mit Jahar befreundet war. Eine weitere Quelle sind seine Tweets, die allerdings – wie bei vielen seiner Altersgenossen – nicht gerade mit Kohärenz gesegnet sind: Es gibt halbgare Witze, Klagen über seinen Zimmerkameraden, seine ständige Unpünktlichkeit, ein paar Rap-Lyrics, die gelegentliche Erleuchtung („Such deinen Platz und deine Bestimmung im Leben und plane die Zukunft“) und immer mehr Tweets, die seine private Situation thematisierten. Er hatte Heimweh. Er litt unter Schlaflosigkeit. Er träumte von Zombies. Und er vermisste seinen Vater. „Ich sehe mein Gesicht in den alten Fotos meines Vaters. Er hatte damals sogar genau so unglaublich viel Haare wie ich“, twitterte er im Juni 2012.
Jahar hatte Kurse belegt, um einen Abschluss als Ingenieur anzupeilen, kam im letzten Herbst aber zur Erkenntnis, dass ihm der Studiengang zu beschwerlich war. Er sattelte auf Biologie um und intensivierte gleichzeitig seine Aktivitäten als Dealer – auch um sich finanziell über Wasser zu halten. Ein Freund aus seinem Studentenwohnheim erzählte, dass sich in seinem Kühlschrank immer prall gefüllte Plastikbehälter mit Gras befunden hätten.
Wie schon auf der Highschool bewies er auch hier das Talent, mit den unterschiedlichsten sozialen Gruppierungen kommunizieren zu können. Relativ frühzeitig fühlte er sich zu einer Gruppe von Studenten aus Kasachstan hingezogen. Es waren gut betuchte Jungs mit einem Faible für exzellentes Gras, das Jahar, der Russisch mit ihnen sprach, gerne und zuverlässig besorgte. In seinem zweiten College-Jahr – er hatte gerade die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen –, schloss er seinen US-Facebook-Account und wechselte zu dem russischen Pendant namens Vkontakte“ oder VK. Er gab dort als Religion „Islam“ an und als seine Interessen „Karriere und Geld“. Er trat mehreren Foren und Diskussionsgruppen bei, die sich in irgendeiner Form mit Tschetschenien beschäftigten, und postete humorige russischsprachige Videos. „Er machte ständig seine Späße, die aber oft einen sarkastischen Unterton hatten“, sagt die russische Studentin Diana Valeeva, die sich auf VK mit ihm anfreundete. Jahar schrieb Diana, dass er seine Heimat vermisse und gerne einmal auf einen Besuch vorbeischauen würde. „Für immer zurückkommen wollte er aber nicht.“
Die Spuren, die Tamerlan in den letzten zwei Jahren hinterließ, sind erheblich einfacher zu rekonstruieren. Auch wenn er – wie sein Bruder – kein Tschetschene war, so war er – anders als Jahar – auch kein Amerikaner. Seine zeitlich begrenzte Green Card musste ihm diese Tatsache immer wieder ins Gedächtnis rufen. Der Islam – oder seine Interpretation davon – wurde Tamerlans neue Identität. Er verschlang Bücher über die tschetschenische Unabhängigkeits-Bewegung, die seit den späten neunziger Jahren einen eindeutig fundamentalistischen Charakter angenommen hatte – nicht zuletzt weil muslimische Kämpfer aus aller Herren Länder in den Kaukasus gekommen waren, um den „Heiligen Krieg“ gegen Russland zu führen. Für junge Tschetschenen ist es keineswegs ungewöhnlich, den „Jihad“ zu verherrlichen. Im Internet zirkulieren zahllose Videos, die dieser Mentalität immer neue Nahrung geben. Anders als die frommen Sheiks, die in den Rekrutierungs-Videos von Al-Quaida salbadern, erinnern die Kaukasus-Kämpfer eher an grimmige Navy-Seals, die mit Tarnanzügen und Bandannas durch die Wälder streifen. Tamerlan postete einige dieser Videos auf seiner YouTube-Seite, ebenso wie „The Emergency of Prophesy: The Black Flags of Khorasan“. Der Kampf um den Chorasan – eine Region, die Teile von Afghanistan, Pakistan und Iran umfasst – ist auch Teil der Al-Quaida-Mythologie und beinhaltet verbitterte, Endzeit-ähnliche Kämpfe gegen die Ungläubigen.
Brian Glyn Williams, Professor für Islamische Studien in Dartmouth, Terrorismus-Experte und Kenner der tschetschenischen Politik, glaubt allerdings, dass Tamerlans „Jihadifizierung“ weniger auf Sympathien für Al-Quaida zurückzuführen ist, sondern eher die Identitätssuche eines jungen Muslims symbolisiert. „In meinen Augen ist es die klassische Methode, mit der Angehörige einer Minderheit ihre Identität rekonstruieren: ,Ich bin Tschetschene – und wir kämpfen für den Jihad. Doch was tue ich? Nichts!‘ Es ist vergleichbar mit dem Phänomen, als Amerikaner mit irischen Vorfahren sich eine Verbindung zwischen Irland und der IRA zurechtlegten: Sie waren nie in ihrem Leben in Nord-Irland gewesen, aber wenn man durch bestimmte Stadtteile in Süd-Boston ging, sah man an jeder Ecke Spendenbüchsen für die IRA.“
Auch für Jahar habe die Identitätssuche wohl eine Rolle gespielt, meint Williams, der Jahar zwar nie in Dartmouth traf, zufälligerweise aber mit ihm korrespondierte, als Jahar noch auf der Highschool war. Einer von Williams‘ Freunden war Englisch-Professor in „Rindge“ – „und er schrieb mir, dass er diesen tschetschenischen Jungen habe, der eine Arbeit über Tschetschenien schreiben wolle – ein Land, in dem er nie gelebt hatte.“ Williams bot sich an, Jahar zu helfen. „Was mich am meisten überraschte, war die Tatsache, wie wenig er wusste“, sagt er. „Er wusste eigentlich nichts über Tschetschenien, wollte aber alles erfahren.“
Ob Jahar nennenswerte Erkenntnisse aus seiner Arbeit zog, ist nicht bekannt. Tamerlan, der alle Bücher zum Thema verschlungen hatte, war indes bereit, den nächsten großen Schritt zu machen. Im Januar 2012 reiste er nach Dagestan, wo er sich sechs Monate aufhalten sollte. Dagestan wurde seit Jahren von einem Bürgerkrieg heimgesucht, in dem sich muslimische Guerillas, die (ebenfalls muslimische) Polizei und russische Truppen einen erbitterten Kampf lieferten. Auf den Straßen explodierten ständig Bomben, und junge Männer, vom heiligen Krieg fasziniert, tauchten von einem Tag auf den anderen unter, „um in den Wald zu gehen“ – einer euphemistischen Umschreibung des Entschlusses, sich dem Aufstand anzuschließen.
Auch Tamerlan war wohl gewillt, den bewaffneten Kampf zu suchen, was ihm aber von einem entfernten Cousin namens Magomed Kartashov – und anderen – wieder ausgeredet wurde. Kartashov, überzeugter Islamist, erklärte dem westlichen Verwandten – der in piekfeinen Klamotten einlief und von seinen Erfolgen als Boxer dröhnte –, dass es in ihrem Bürgerkrieg keinen Platz für ihn gebe. Es sei ein interner Kampf, sagte er, der nur dazu geführt habe, dass sich Muslime gegenseitig umbringen würden. Kartashov ermahnte Tamerlan, lieber ein Leben der Gewaltlosigkeit zu leben und Dagestans Probleme zu vergessen. Mit dem Resultat, dass Tamerlan im Frühsommer des letzten Jahres vom Heiligen Krieg „nur noch in einem globalen Zusammenhang“, sprach, wie sich einer der Islamisten erinnert.
Im Juli 2012 kehrte Tamerlan nach Cambridge zurück. Er ließ sich einen 15 Zentimeter langen Bart wachsen, pries mit zunehmender Lautstärke die Vorzüge des Islams und wütete gegen die US-Politik im Mittleren Osten. Im Lauf der nächsten sechs bis acht Monate sorgte er in seiner örtlichen Moschee zwei Mal für Aufruhr, als er zunächst die Tradition von „Thanksgiving“ und dann, im Januar 2013, Martin Luther King denunzierte.
Onkel Ruslan hegte derweil die Hoffnung, dass sich Jahar – inzwischen in Dartmouth – Tamerlans Einfluss entziehen könne. Doch stattdessen fing Jahar an, die religiöse Eiferei seines Bruders zu übernehmen. Der Prophet Mohammed, schrieb er auf Twitter, sei nun sein großes Vorbild. „Zu wissen, dass ich FREI bin von HEUCHELEI, bedeutet mir mehr als das Gewicht der GANZEN Welt in GOLD“, zitierte er einen frühen islamischen Gelehrten. Er wurde Follower mehrerer islamistischer Twitter-Accounts. „Den rebel with a cause sollte man nie unterschätzen“, twitterte er selbst.
Auch wenn es so aussah, als habe Jahar tatsächlich seine Berufung gefunden, so ließ sich seine plötzliche Passion für den Islam vielleicht auch mit weitaus banaleren Beweggründen erklären: seinem Bedürfnis, Teil einer Gruppe zu sein. „Er war, als hätten ihn alle fallen gelassen“, sagt Payack, der sich sicher ist, dass die Scheidung der Eltern und ihre Rückkehr nach Russland eine entscheidende Rolle gespielt haben, aber auch der Verlust des Sicherheitsnetzes, das ihm die Highschool gewährt hatte.
Theo, der ein College in Vermont besucht und einer der wenigen Schulfreunde ist, die keinen Studenten-Kredit beantragen mussten, mag sich gar nicht vorstellen, unter welchem Stress Jahar gestanden haben muss. „Die ganzen privaten Probleme lasteten auf seinen Schultern, dazu das College, das er aus eigener Tasche bezahlen musste. Das ist kein Zuckerschlecken. All das mag dazu geführt haben, dass er ,Fuck it‘ sagte und den Glauben an die Zukunft verlor.“
Wick Sloane, der an einem benachbarten Community College lehrt und sich für Bildungsfragen starkmacht, hat dieses Phänomen bei vielen der Immigranten-Kinder festgestellt, die seine Klassen durchlaufen. „All diese Kids sind zunächst einmal dankbar, dass sie in den USA sind. Aber dann stellt sich unweigerlich die Frage: ,Ist das nun das Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder nicht?‘ Wenn ich mir anschaue, was diese Kids durchgemacht haben und wie sie dann von staatlichen Statuten fertiggemacht werden, mag ich nicht glauben, dass sie nicht alle viel wütender sind. Ich bin fast schon überrascht, dass es so lange gedauert hat, bis eins dieser Kids die Bombe gezündet hat.“
„Schon zehn Jahre in Amerika“, twitterte Jahar im März 2012. „Ich will raus.“ Er freute sich darauf, in den Sommerferien seine Eltern in Dagestan zu besuchen – nur um dann zu erfahren, dass sein amerikanischer Pass nicht rechtzeitig ausgestellt werden konnte. „Bin traurig“, twitterte er. Stattdessen heuerte er als Badewärter bei einem öffentlichen Pool in Harvard an. „Ich bin nicht Lifeguard geworden, um rumzulungern und dafür bezahlt zu werden“, twitterte er. „Ich mach es für die Menschen. Leben zu retten macht mir Freude.“ Er lebte bei Tamerlan und seiner Frau, die aber mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen hatten. Die finanzielle Situation war so unersprießlich geworden, dass man Sozialhilfe beantragt hatte. Tamerlan war nun alleinerziehender Vater, während seine Frau Tag und Nacht als ambulante Pflegerin arbeitete, um die Familie über Wasser zu halten.
Als Jahar davon hörte, dass die Olympischen Spiele in London 15 Milliarden Dollar verschlingen würden, schrieb er im August: „Stellt euch vor, das ganze Geld würde dazu verwendet, die Hungernden dieser Welt zu ernähren. Menschliches Leben ist heute nur einen Scheißdreck wert und das ist #tragisch.“ Im Herbst kehrte er nach Dartmouth zurück. Ohne auf Tamerlan und seine brüderliche Kontrolle Rücksicht nehmen zu müssen, groovte er sich wieder ins Studentenleben ein, besuchte Partys und ließ seine Studien locker angehen.
„Hab keine Ahnung, warum sich so viele von euch schwertun, 9/11 als Inside-Job zu akzeptieren“, twitterte er. „Scheiß auf die Fakten. Ihr seid wohl alles echte #Patrioten #gethip.“ Er war mit dieser Meinung nicht mal allein. Payack, der gleichzeitig auch am „Berklee College of Music“ „creative writing“ lehrt, geht davon aus, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner Studenten – vor allem die, die im Ausland geboren wurden – davon ausgeht, dass 9/11 tatsächlich ein „Inside-Job“ war. Aaronson, der pensionierte Geschichtslehrer, erzählt mir, er sei schockiert von der Anzahl der Jugendlichen, die in den Juden die wahren Drahtzieher von 9/11 vermuten. „Das Problem mit dieser speziellen Bevölkerungsgruppe besteht darin, dass sie die grundlegenden Zusammenhänge ihrer Geschichte nicht kennen – eigentlich überhaupt keine Zusammenhänge mehr. Sie hauen sich den Kopf mit Pot voll und suchen dann im Internet nach irgendwelchen ,Factoiden‘, die in ihre geschichtslose und inkohärente Ideologie zu passen scheinen. Und die Welt der Erwachsenen schaut sprachlos zu und wischt das Phänomen einfach vom Tisch – und gefährdet damit unser aller Zukunft.“
Im letzten Dezember kam Jahar für die Weihnachtsferien nach Hause und blieb mehrere Wochen. Seinen Freunden fiel nichts Ungewöhnliches auf – abgesehen davon, dass er mit wenig Erfolg versuchte, sich einen Bart wachsen zu lassen. Anfang Februar besuchte er seine alte Highschool, trainierte mit dem Ringer-Team und gestand Theo, der ebenfalls mitgekommen war, dass er das Ringen vielleicht etwas ernsthafter hätte angehen sollen. Er hätte wirklich ein Crack werden können, wenn er nur mehr von sich investiert hätte.
In der Norfolk Street Nr. 410 war Tamerlan, der früher auf modische Kleidung großen Wert legte, inzwischen dazu übergegangen, nur noch Bademantel und eine versiffte Jogginghose zu tragen. Jahar vertiefte sich derweil weiter in den Islam. „Ich treffe die unglaublichsten Leute“, twitterte er. „Meine Religion ist meine Wahrheit.“
Manchmal schienen ihnen aber auch Zweifel zu überfallen, da inzwischen selbst sein geliebtes Cambridge Enttäuschungen für ihn bereithielt. „In Cambridge gibt’s ein paar echt gute Leute, aber manchmal ist die ganze Stadt so gottverdammt falsch und heuchlerisch“, schrieb er am 15. Januar. Und am gleichen Tag: „Ich streite nicht mit Idioten, die den Islam mit Terrorismus gleichsetzen. Lohnt nicht die Bohne. Sollen Idioten doch Idioten bleiben.“
Unterlagen der „UMass Dartmouth“, die von der „New York Times“ eingesehen werden konnten, geben Auskunft darüber, dass er in seinem zweiten Studienjahr kaum noch Kurse erfolgreich abschloss. Er schuldete dem College angeblich bereits mehr als 20.000 Dollar. Ebenso belastend musste für ihn sein, dass die Sozialhilfe für seine Familie im November 2012 reduziert worden war. Im Januar verloren Tamerlan und seine Frau den Anspruch auf die „Section 8“-Regelung, nach der Bedürftige einen Wohngeld-Zuschuss in Anspruch nehmen können. Was bedeutete, dass sie sich ihr Apartment nicht mehr leisten konnten und früher oder später eine andere Bleibe finden mussten.
Es gibt keine empirische Wissenschaft, die uns erklärt, wann und warum eine Person mit einer „radikalen“ Ideologie sich entschließt, einen Akt der Gewalt zu begehen. In einem Punkt sind sich die Experten aber einig: Es muss so etwas wie ein „kognitives Aha-Erlebnis“ geben. „Ein Mensch ist wütend – und er braucht eine Erklärung für seinen Zustand“, sagt Tom Neer von der „Soufan Group“. „Es ist ein gängiger Verdrängungsmechanismus, die Schuld auf andere zu schieben. Statt sich einzugestehen: ,Ich stecke in einer Sackgasse, ich habe ein Problem‘, ist es so viel einfacher, sich ein passendes Feindbild zurechtzulegen und einen Sündenbock zu suchen. Der ideologische Überbau – der ,US-Imperialismus‘ oder was auch immer – kommt später. Entscheidend ist die Begründung.“
Tamerlan Tsarnaev brauchte sich nur umzusehen, um Gründe für seine Wut zu finden. Und da man ihm den „Jihad“ in Dagestan ausgeredet hatte, richtete er nun seinen Fokus auf Amerika – ein Land, das in seinen Augen für so viel Leid in der Welt verantwortlich war, nicht zuletzt für sein eigenes.
Im Februar, kurz nachdem er seinen Wohngeld-Zuschuss verloren hatte, fuhr Tamerlan nach New Hampshire, wo er – laut Anklageschrift – „48 Mörser mit rund acht Pfund Sprengstoff“ kaufte. Etwa zum gleichen Zeitpunkt begann Jahar damit, militant-islamistische Schriften auf seinen Computer runterzuladen, darunter auch die erste Ausgabe des Al-Quaida-Magazins „Inspire“. Ein Artikel mit der Überschrift „Make a Bomb in the Kitchen of Your Mom“ gibt dort detailliert Auskunft, wie man mit einem Druckkocher, Sprengstoff aus Feuerwerkskörpern, Schrapnell und anderen simplen Zutaten ein IED, eine improvisierte Sprengvorrichtung herstellt.
Auch zum „spring break“ im März kam Jahar nach Cambridge zurück und hing einmal mehr mit der alten Crew ab. Er brachte seinen Freund Dias Kadyrbayev mit, der in seinem schwarzen Luxus-BMW angereist war, auf dessen Nummernschild sich der etwas flapsige Schriftzug „Terrorista“ befand. Jahar verabredete sich mit Freunden, fuhr mit ihnen einmal zum Charles River, wo sie Feuerwerkskörper zündeten, oder hing mit ihnen auf ihrem traditionellen Basketball-Platz ab. Er sah zufrieden und entspannt aus, eigentlich so wie immer, und trug inzwischen eine neue, Militär-ähnliche Jacke, die seine Freunde „cool“ fanden. „Und das war das letzte Mal, das ich ihn sah“, sagt Will.
Was sich im März und Anfang April in dem Apartment in der Norfolk Street abspielte, bleibt ein Geheimnis. „Es ist nur schwer nachzuvollziehen, wie in dem Jungen eine derartige Dissoziierung, eine derartige Entfremdung stattfinden konnte“, sagt Aaronson, der Jahar zum letzten Mal im Januar traf – also vermutlich noch vor dem Zeitpunkt, an dem die Brüder den Entschluss zu ihrer Tat fassten. „Offensichtlich hatten sie dort ja ein ganzes Arsenal angelegt. In dem Haus! Er hätte den ganzen Häuserblock in die Luft sprengen können.“
Laut Anklageschrift fuhren die Brüder am 20. März zu einem Schießplatz, wo Jahar zwei 9mm-Handfeuerwaffen mietete, 200 Schuss Munition kaufte und mit Tamerlan auf die Zielscheibe schoss. Am 5. April bestellte Tamerlan im Internet elektronisches Zubehör, das für den Bau eines IED notwendig war. Einige von Jahars Freunden erzählten später dem FBI, dass er einmal erwähnt habe, selbst eine Bombe bauen zu können. Niemand schien davon übermäßig beunruhigt zu sein. „Menschen treten in dein Leben, um dir zu helfen, dich zu verletzen, dich zu lieben oder zu verlassen – und all das prägt deinen Charakter und macht dich zu der Person, zu der du bestimmt bist“, twitterte Jahar am 18. März.
Zwei Tage später: „Das Böse triumphiert, wenn gute Männer nichts dagegen unternehmen.“
Am 7. April: „Wenn du das Wissen hast und die Eingebung, liegt es an dir, zur Tat zu schreiten.“
Am 11. April: „Die meisten von euch haben sich durch die Medien verdummen lassen.“
Vier Tage später gingen die Bomben hoch.
Am Nachmittag des 18. April befand sich Robel Phillipos, Jahars Freund in Cambridge als auch in Dartmouth, auf dem Campus der Uni, sah sich im Fernsehen die Nachrichten an und telefonierte gleichzeitig mit Dias. Er sagte Dias, der gerade im Auto saß, er solle sich doch einmal die Nachrichten anschauen, sobald er wieder zu Hause sei. Einer der Bomber sehe doch tatsächlich fast so aus wie Jahar. Doch wie die meisten der Freunde war Dias davon überzeugt, dass es sich um einen Zufall handeln müsse. Er schrieb Jahar in einer SMS, dass er wie einer der Verdächtigen im Fernsehen aussehe. „Lol“, schrieb Jahar zurück. Er bat seinen Freund allerdings auch, ihm künftig keine SMS mehr zu schicken. „Bin auf dem Sprung“, schrieb er. „Wenn du irgendwas aus meinem Zimmer brauchst, dann nimm’s dir.“
Laut FBI-Recherchen trafen sich Robel, Dias und ihr Freund Azamat daraufhin an der „Pine Dale Hall“, Jahars Studentenwohnheim, wo sie Jahars Zimmergenosse informierte, dass er vor ein paar Stunden den Campus verlassen habe. Sie gingen daraufhin in sein Zimmer und schauten sich einen Film an. Dann fiel ihnen Jahars Rucksack auf. Im Rucksack befanden sich Feuerwerkskörper, deren Inhalt aber entleert worden war. Unschlüssig, wie sie sich verhalten sollten, nahmen sie den Rucksack als auch Jahars Computer und fuhren damit zu Dias‘ und Azamats Apartment, das sich nicht auf dem Uni-Gelände befand. Dort angehommen, „freakten wir aus, weil es aufgrund eines CNN-Berichtes inzwischen eindeutig war, dass Jahar einer der beiden Boston-Marathon-Bomber war“, wie Robel später dem FBI erzählte.
Aber niemand wollte, dass Jahar Ärger bekam. Dias und Azamat fingen an, in Russisch zu sprechen. Schließlich drehte sich Dias zu Robel und fragte ihn auf Englisch, ob er wohl die Sachen verschwinden lassen sollte. „Tu, was du tun musst“, sagte Robel und legte sich hin, um ein Nickerchen zu machen.
Dias legte später das Geständnis ab, dass er sich einen großen schwarzen Müllsack nahm, ihn halb mit Müll füllte und dann den Rucksack mit den Feuerwerkskörpern hineinstopfte. Dann warf er den Müllsack in einen Container. Der Sack wurde später auf einer städtischen Müllhalde von FBI-Mitarbeitern sichergestellt. Auch der Computer tauchte später auf, auch wenn es von Seiten der Polizei bislang kein Statement darüber gibt, was auf der Festplatte gefunden wurde.
Die Geheimnisse von Jahars sorgsam getarnter Psyche werden möglicherweise sogar niemals gelüftet werden können. Genauso wenig wie seine wahren Motive – was bei angeklagten Terroristen durchaus der Normalfall ist. „Es gibt keinen alleinigen Auslöser“, sagt Neer. „Was man bei den meisten dieser Leute diagnostiziert, ist ein gradueller Prozess, in dem sich das Gefühl der Fremdheit, der Teilnahmslosigkeit, der Nicht-dazu-Gehörigkeit kontinuierlich verschärft. Allen gemeinsam aber ist es, dass es ein ganzes Bündel von Faktoren gibt, die für sie falschlaufen.“
Einen Monat nach dem Attentat sitze ich mit einigen der Freunde auf der Gartenterrasse von Alyssas Haus. Es ist ein verschlafener Sonntag im Mai – und der Terror der Medien ist etwas abgeklungen. Das FBI sucht natürlich noch immer nach den Gründen für die „Radikalisierung“ der Brüder, während die „Al-Quaida“-Sektion auf der arabischen Halbinsel die Situation dankbar ausnutzt und Tamerlan – mit Pilotenbrille und in ein weißes „Saturday Night Fever“-T-Shirt gekleidet – in der jüngsten Ausgabe von „Inspire“ präsentiert. Jahar hat seinen eigenen Fanclub – #FreeJahar – und Zehntausende von neuen Twitter-Followern, auch wenn er seit seiner Verhaftung keinen Tweet mehr verschickt hat.
Wie so viele seiner Fans sind auch einige seiner Freunde auf den „Conspiracy“-Zug aufgesprungen – allein schon deswegen, wie es Cara ausdrückt, „weil es zu viele unbeantwortete Fragen gibt“. Sie weist etwa daraufhin, dass der Rucksack, den der FBI sicherstellte, nicht die gleiche Farbe wie Jahars Rucksack gehabt habe. Im Internet kursiert auch ein Foto von Jahar, wie er sich – ohne Rucksack – von der Szene des Anschlags entfernt. Schaut man genauer hin, erkennt man aber die Umrisse eines schwarzen Trägers. „Photoshopped!“, heißt es dazu in der Bildunterschrift.
Zum größeren Teil bemühen sich seine Freunde aber, das Kapitel abzuschließen und nach vorne zu blicken. „Wir haben halt die Befürchtung, dass uns diese Sache bis ans Lebensende anhängen wird“, sagt Alyssa – und erläutert den Grund, warum sie und Sam und Jackson und Cara und Will und James und Theo auf einem Pseudonym bestanden. Schon als Jahar auf der Flucht war, bekamen sie Anrufe vom FBI. Die Agenten, oft in schusssicheren Westen, besuchten sie auf ihren Colleges und wollten Informationen und Telefonnummern.
„Man fühlt sich so unglaublich in die Enge getrieben, man glaubt, sich selbst verdächtig zu machen, wenn man ihre Fragen nicht beantwortet“, sagt Jackson, der offen zugibt, einige Telefonnummern seiner Freunde preisgegeben zu haben, als die FBI-ler Druck auf ihn ausübten.
Sam hegt die Vermutung, dass die Feds auch sein Telefon anzapfen. Alle wurden sie einzeln verhört – ohne Anwalt. „Ich wusste nicht mal, dass ich auf einen Anwalt bestehen konnte“, sagt Jackson. „Und sie erklärten mir auch nicht, dass meine Aussagen gegen mich verwandt werden konnten – was ganz schön unfair ist. Ich bin nun mal erst 19.“
Am schlimmsten aber – da sind sich alle einig – traf es Robel, der vom FBI vier Mal vernommen wurde. Nachdem er zunächst alles geleugnet hatte, rückte er beim vierten Mal mit der Sprache raus und gestand, dabei geholfen zu haben, Jahars Rucksack und Computer aus dem Zimmer zu schaffen. Robel ist 19, sieht aber eher wie 12 aus – und alle Freunde sind einstimmig der Meinung, dass ihn am wenigsten Schuld treffe. Da er aber die Ermittler zunächst belog, muss er nun mit acht Jahren Gefängnis rechnen.
„Jetzt können Sie vielleicht nachvollziehen, warum wir unsere Namen nicht in der Zeitung lesen möchten“, sagt Sam. „Und das nicht deswegen, weil wir verheimlichen möchten, mit Jahar befreundet gewesen zu sein. Im Gegenteil: Er war ein sehr guter Freund.“
Jahar ist natürlich noch am Leben – auch wenn es nur zu verständlich ist, dass alle Beteiligten von ihm in der Vergangenheit reden – als sei auch er bereits tot. Aller Voraussicht nach wird er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen – was immer noch besser ist als die Todesstrafe. „Ich komm mit dieser Vorstellung nicht mal ansatzweise klar“, sagt Cara. „Eigentlich mit der ganzen Geschichte nicht.“
Womit sie nicht alleine ist. Auch wenn sich die Bevölkerung vorgenommen hatte, „one Cambridge“ zu sein und ihre kollektive Angst in den Griff zu bekommen, so hatte niemand in seinem Freundeskreis eine Ahnung, dass er unglücklich war, dass er Probleme mit seiner Familie hatte – abgesehen vielleicht von der nackten Tatsache, dass sich seine Eltern scheiden ließen. Was aber auch wieder nicht übermäßig ungewöhnlich ist.
„Ich erinnere mich, dass er aufgebracht war, als sein Vater das Land verließ“, sagt Jackson.
„Wenn ich jetzt drüber nachdenke, muss es für ihn schon eine erhebliche Belastung gewesen sein, dass seine Eltern plötzlich beide verschwanden“, sagt Sam.
„Aber das ist nun mal das große Rätsel“, sagt Jackson. „Ich weiß einfach nicht, was in ihm vorgegangen ist.“
Es ist einfach nur seltsam – da sind sich alle einig.
„Es muss die klassische Gehirnwäsche gewesen sein, die sein Bruder an ihm vorgenommen hat“, sagt Sam. „Sonst gibt’s keine plausible Erklärung.“
Jemand erwähnt das Überwachungs-Video, auf dem Jahar emotionslos den Passanten zuschaut, die kurz nach der Explosion zum Unglücksort zurücklaufen. „Das ist das gleiche Gesicht, das ich immer gekannt habe – beim Chillen, beim Reden, beim Rauchen“, sagt Jackson. Er wünschte sich, man könnte Panik in Jahars Gesicht sehen. „Zumindest wäre ich dann in der Lage zu sagen: ,Okay, irgendetwas ist passiert.‘ Aber … nichts.“
An diesem Sonntag veröffentlichte der „Boston Globe“ eine Story über die Krankenschwestern des „Beth Israel Deaconness Hospital“, die sich in den Tagen nach seiner Festnahme um Jahar kümmerten. Sie hatten, nun ja, zumindest zwiespältige Gefühle und wollten nicht unnötig Zeit mit ihm verbringen, weil sie Angst hatten, ihn am Ende noch in ihr Herz zu schließen. Eine Schwester erzählte, dass sie sich auf die Zunge beißen musste, um ihn nicht mit „Schatz“ anzusprechen. Die Freunde sind einer Meinung, dass sie diese Geschichte eher abstoßend finden. „Die Leute wollen doch immer nur Blut sehen“, sagt Jackson.
Eine Anekdote, die in dem Artikel nicht erwähnt wird, aber in Boston kursiert, nachdem eine Krankenschwester sie in Umlauf brachte, besagt, dass Jahar zwei Tage lang nur geweint habe, als er im Krankenhaus aufwachte. Keiner der Freunde hat bisher von der Geschichte gehört, aber als ich sie erwähne, atmet Alyssa erleichtert auf. „Das ist gut zu wissen“, sagt sie.
„Ich kann mir definitiv vorstellen, dass das passiert ist“, sagt Sam, ebenfalls dankbar für die Information. „Ich hoffe, dass er heult. Ich hoffe es aus ganzem Herzen.“
„Ich hoffe, er wäre aufgewacht und hätte gesagt: ,Was in Gottes Namen hab ich da in den letzten 48 Stunden angerichtet?‘“, sagt Jackson, der aber mit den anderen einer Meinung ist, dass die Sache mit dem Heulen wirklich gut zu Jahar passen würde.
Andererseits: Niemand hat eine Ahnung, um was er denn da wohl weinte.