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Die 50 besten Alben 2014
Umstrittene Helden, viel junges Blut, viele Alleingänge. Die ROLLING-STONE-Redaktion hat sich auf die besten 50 Alben des Jahres geeinigt. Mit einer überraschenden Nummer Eins.
50. Bill Pritchard - "A Trip To The Coast"
36. Ja, Panik – „Libertatia“
25. Robert Ellis – ‚The Lights From The Chemical Plant‘
Nach seinem Debüt zog Robert Ellis 2012 von Houston nach Nashville, geschadet hat es dem 25-Jährigen nicht. Seine schwelgerischen Country-Folk-Songs klingen immer noch wie aus der Zeit gefallen und erzählen – mit kräftiger, aber nie übertriebener Gitarren- und Piano-Begleitung – doch so viel vom Leben im Jahr 2014: Wie einen der Fernseher über die Einsamkeit hinwegtröstet, wie einem falscher Stolz im Weg steht, wie man sich nach gestern sehnt, obwohl damals auch nichts besser war. Neben Ryan Adams und Dawes kann sich Ellis inzwischen problemlos behaupten, er hat seine eigene Stimme gefunden. Weshalb er es sich sogar leisten kann, Paul Simons ‚Still Crazy After All These Years‘ zu covern.
Bester Song: ‚TV Song‘
24. Marcus Wiebusch – ‚Konfetti‘
Wenn die Band unbedingt Pause machen will, sucht sich der Sänger halt eine andere Beschäftigung. Marcus Wiebusch, hautberuflich bei Kettcar, nahm ein Soloalbum auf. Auf Liebeslieder verzichtet er hier weitgehend, dafür rappt er manchmal. Und beobachtet die Welt, wie sie war (‚Off‘, ‚Wir waren eine Gang‘), ist (‚Jede Zeit hat ihre Pest‘) oder sein sollte (‚Was wir tun werden‘). Wie kommt man zurecht – als Nerd, als Hedgefond-Manager, als richtiger Mensch im falschen Leben? Es gibt mehr Fragen als Antworten, aber auch klare Ansagen – etwa im berührenden Sieben-Minuten-Fanal ‚Der Tag wird kommen‘, das einen Helden der Zukunft feiert: den ersten aktiven Fußballer, der sich als schwul outet.
Bester Song: ‚Der Tag wird kommen‘
23. St. Vincent – ‚St. Vincent‘
Mit jedem Album wird klarer, dass Annie Clark ihr Alter Ego St. Vincent als Gesamtkunstwerk geschaffen hat. Für ihr viertes Album erarbeitete sie das visuelle Konzept mit dem Designer Virgil Abloh, der auch Kanye West berät, und gibt sich auf dem Cover als Hohepriesterin from outer space – irgendwo zwischen Sun Ra, Ziggy Stardust und ‚Montana Sacra‘ von Alejandro Jodorowsky. Die Musik changiert zwischen kühlem Neo-New-Wave (wenn es so etwas gibt), Talking-Heads-Hysterie und Blondie-Pop, schroffen Gitarren, hektischen Beats und elegischen Melodien. Als Party-Platte, die man auf einer Beerdigung spielen kann hat Clark ‚St. Vincent‘ bezeichnet. Der Körper ist schon kalt, aber das Herz noch warm.
Bester Song: ‚Digital Witness‘
22. Temples – ‚Sun Structures‘
Ein Retromania-Debut, das viel über 2014 verrät. Vier Anfang-Neunziger-Jahrgänge erzählen Psychedelia-Schoten aus den frühen Siebzigern. Von allen aktuellen Youngster-Bands, die in ihren digitalen Ministudios der Zehnerjahre wie Trüffelschweine in der Vergangenheit wühlen, hat das Quartett aus den britischen Midlands schlicht die beste Songschreibe. Ihr ‚Shelter Song‘ begann als Klickrenner auf den Videokanälen, über die selbstproduzierte ‚Mesmerize‘-EP landeten sie beim Saint-Etienne-Label Heavenly und dann ging es auf große Welttour. Zwölf perfekte Samtsakko-Hymnen mit Pelzkragen, wie geschaffen für die Playlist der globalen Pop-Modekette ‚Urban Outfitters‘.
Bester Song: ‚Colours To Life‘
21. Owen Pallet – ‚In Conflict‘
Die Platte mit dem enigmatischen Klecks-Cover ist die bislang zugänglichste des Sinfonie-Elektronikers mit der Aura einer Mingvase. Edel, zerbrechlich und bis ins Detail ausgepinselt. Es passt ins Bild, dass der bis 2010 als Final Fantasy wirkende Kanadier in diversen Projekten Violine spielt. In Palletts Techno-Version werden Beats ziseliert und Streicherspuren geschichtet, über die er im Studio seine prägnante Stimme legt. Schon der Titelsong ist feinste Singer-Songwriter-Kunst, ‚The Secret Seven‘ schwelgerischer Kammerpop. Er habe sich aus dem Labyrinth seiner Möglichkeiten befreit,
heißt es in einer Kritik. ‚I Am Not Afraid‘ singt er. Eine Art Befreiungsschlag mit Mitte 30.
Bester Song: ‚I Am Not Afraid‘
20. FKA Twigs – ‚LP1‘
Das manipulierte, maskenhafte Gesicht der Sängerin entspricht ihrer Musik: fremd, neu, irritierend. Und doch geht es hier um Soul im weitesten Sinne: Twigs sehr eigener Sound ist aus TripHop, R&B und Dubstep gebaut. Ein Arsenal zeitgenössischer Effekte – Layer, Hall, Geschredder – gibt den Tracks eine offene, bröselige Struktur, die oft alleine von Twigs kristallklarer Stimme gehalten wird, einer Stimme, die davon singt, dass der ‚Motherfucker‘ gefälligst ’sucken‘ soll – was angesichts der sakralen Stimmung einigermaßen irritierend ist. Tracks wie ‚Hours‘ erinnern fern sogar an die junge Erykah Badu, eine Erykah Badu des digitalen Zeitalters, lost in klöppelnden, surrenden Zukuftssounds.
Bester Song: ‚Two Weeks‘
19. U2 – ‚Songs Of Innoncence‘
Schade um die schönen Lieder. So viel wurde über den blöden Apple-Deal geredet, über das blöde Cover und die blöden Verteidigungsstrategien der Iren. Eher weniger geredet wurde leider darüber, wie gut die ‚Songs Of Innocence‘ sind. Elf Stücke über die Wunder und Enttäuschungen des Erwachsenwerdens, mit allem, was klassische U2-Hymnen ausmacht: treibende Gitarren von The Edge, Bonos sehnsüchtiger Gesang und der eine oder andere Hinweis darauf, dass die Welt nur so schlecht ist, wie wir sie machen. All die Jahre im Studio, all die Produzenten, all die Anstrengung – man hört sie kaum. Und das ist keine Kritik, sondern ein Kompliment. Berührend statt beeindruckend: Das stand U2 immer besser.
Bester Song: ‚Every Breaking Wave‘
18. Beck – ‚Morning Phase‘
Fast hatte man Beck, den notorischen Alles-anders-Macher, schon abgeschrieben. Erst kam er mit Songs an, die es zunächst nur als Notenblätter gab. Danach erzählte er, er wolle gar keine Alben mehr veröffentlichen, nur noch Singles. Und dann kam plötzlich ‚Morning Phase‘ heraus – und entpuppte sich als kleines Meisterwerk: zart gezupfte Folksongs, aber auch opulente Orchesterarrangements, ein wenig Psychedelia und viel Melancholie, die immer wieder vom hereinbrechenden Morgenlicht gemildert wird. Wer die Natur versteht, scheint Beck zu sagen, kann gar kein Loser sein. Ein Album, das sich um verschiedene Arten von Aufbruch dreht und wie ein Morgen klingt, an dem noch alles möglich ist.
Bester Song: ‚Say Goodbye‘
17. Niels Frevert – „Paradies der gefälschten Dinge“
Die überbordende Melanholie und Romantik von „Zettel auf dem Boden“ konnte er unmöglich übertreffen. Und doch ist Frevert wieder die beste deutsche Songschreiber-Platte des vergangenen Jahres gelungen.
„Paradies der gefälschten Dinge“ zieht die Vorhänge auf und lässt etwas Licht in die rotweinschweren Stücke des Hamburger Liedermachers.
Zwischen opulentem Chanson, elegantem Jazz, der Streicher-Grandezza eines Burt Bacharach und Brill-Building-Pop hat sich Frevert sein eigenes melodisches Universum eingerichtet, in dem auch Menschen heimisch werden könnten, die eher Richtung Schlager tendieren, wären da nicht diese wunderbar surrealen Beobachtungen.
Conor Oberst – ‚Upside Down Mountain‘
Conor Oberst geht es gut. Manche nehmen ihm das übel, weil seine Folksongs nicht mehr so zerschossen klingen, sondern manchmal sogar das Leben feiern. In dem Hippie-Eklektiker Jonathan Wilson hat er einen kongenialen Produzenten gefunden, der seiner Poesie mit einer angemessen kraftvollen Instrumentierung unterlegt – von zart bis ungeniert opulent. Die eigentliche Schau sind aber immer noch die großen Texte des kleinen Mannes aus Omaha/Nebraska, der unfassbare Wortkaskaden singen, greinen, flüstern kann. Merksatz: ‚So just go out with a bang like Hemingway/ Some will say you’re brave/ Some will say you ain’t.‘ Merksatz: ‚So just go out with a bang like Hemingway/ Some will say you’re brave/ Some will say you ain’t.‘ Merksatz: Oberst will es noch immer nicht allen recht machen, deshalb macht er fast alles richtig.
Bester Song: ‚Hundreds Of Ways‘
15. Joe Henry – ‚Invisible Hour‘
Anfangs war er ein Americana-Songwriter, dann ein Soundtüftler und natürlich Produzent, jetzt ist Joe Henry vor allem ein Dichter, der lang an seinen feierlichen Poemen feilt, um sie dann ohne viel Vorbereitung spontan in kleiner akustischer Folk-Jazz-Besetzung aufzunehmen. ‚Invisible Hour‘ ist eine Stunde der wahren Empfindung, ein Album über die Liebe im Angesicht der Ewigkeit. Henry singt von Engeln und heiligen Geistern und es scheint fast wie eine göttliche Fügung, dass die Saxofone und Klarinetten, die dem Album eine wundervolle Van-Morrison-Note verleihen, von seinem Sohn Levon gespielt werden. 2014 ist – siehe Tweedy – wohl auch das Jahr der musikalischen Vater-Sohn-Beziehungen.
Bester Song: ‚Grave Angels‘
14. John Fullbright – ‚Songs‘
Wie oft liest man etwas über ‚klassisches Songwriting‘ und ist dann doch enttäuscht, weil man wieder nur den üblichen Retro- oder wahlweise auch Indie-Kram zu hören bekommt. Der aus Bearden/Oklahoma stammende John Fullbright zelebriert diese Kunst jedoch wie eine Zunft, die außer ihm vielleicht noch ein paar uralte Meister beherrschen. Zu akustischer Gitarre, Klavier und Wurlitzer singt Fullbright mit unnachahmlich sonorem Raspeln Balladen wie ‚When You’re Here‘ und ‚She Knows‘, die so klingen, als hätte sie jemand zu mitternächtlicher Stunde in einer herrlich verqualmten Bar zwischen vollen Aschenbechern und leeren Whiskygläsern geschrieben. Man möchte ewig dort sitzen.
Bester Song: ‚Write A Song‘
13. Damon Albarn – ‚Everyday Robots‘
Wenn man den Begriff Soul von seinem Genre löst, dann hat Damon Albarn das Soulalbum des Jahres gemacht. Warm und verdichtet, sentimental und abgeklärt zugleich, ein Betrachten erinnerter Bilder, ein souveränes Spiel mit musikalischen Möglichkeiten. Intimer war Albarn nie, die Songs handeln von seinem Leben, die Musik auch. Der Weg führt von Blur zu Bobby Womack; eine feierliche, seelevolle Stimmung prägt ‚Everyday Robots‘, Produzent Richard Russell sorgt für kleine elektronische Stolperer in den zum Heulen schönen Harmonien. Eine herzzerreißendere Ballade als ‚Lonely Press Play‘ wird man 2014 kaum finden, und ‚Heavy Seas Of Love‘ ist ein sturmumtoster Gospel, der Nick Cave erbleichen lässt.
Bester Song: ‚Lonely Press Play‘
12. Damien Rice – ‚My Favourite Faded Fantasy‘
Ein Album wie ein Offenbarungseid: Nach der Trennung von Lisa Hannigan brauchte Damien Rice acht Jahre, um diese acht Stücke fertigzustellen – er hatte keine Eile, denn seine Songs wurden derweil in jeder zweiten amerikanischen Fernsehserie (und in Mike Nichols‘ Film ‚Closer‘) als stimmungsvolle Klangkulissse verwendet. Der irische Barde ist ein wahrer Übertreibungskünstlker und Emotionsvirtuose – und ein Liebling der Frauen mehr als der Kritik.
Bester Song: ‚I Don’t Want To Change You‘
11. Swans – ‚To Be Kind‘
Michael Gira hat neben dem unheimlichen letzten Swans-Album ‚The Seer‘ von 2012 in diesem Jahr mit ‚To Be Kind‘ einen zweiten Monolithen aufgestellt, der einen ähnlich langen dunklen Schatten wirft. Ein Monster aus Totengräber-Blues, hypnotischen Drones, Industrial, Wahnsinn, Gott und Teufel. Um mal die Bandbreite dieses Werkes zu veranschaulichen reicht schon ein Blick auf das Tracklisting: Ein Stück ist Chester Burnett alias Howlin‘ Wolf (Autor von ‚Spoonful‘, Blaupause für Captain Beefheart) gewidmet, ein anderes Kirsten Dunst. “To Be Kind‘ erscheint noch dichter, langsamer, schwerer, intensiver und komplexer als der Vorgänger, ist aber zugleich zugänglicher, weil es in der Ausführung nahezu perfekt ist.
Bester Song: ‚A Little God In My Hands‘
10. Sun Kil Moon – ‚Benji‘
„For 46 years now I cannot break the spell/ I’ll carry it through my life and probably carry it down/ I’ll go to my grave with my melancholy/ And my ghost will echo my sentiments for all eternity“, bekennt Mark Kozelek im zehnminütigen „I Watched The Film The Song Remains The Same“. „Benji“ steckt voll solcher Elegien über die verwehte Jugend, Tod und Trauer, den Schmerz und die Schönheit des Zurückschauens, den Wahnsinn in der Welt und das Leben im „everyday America“. Gegen all die klampfenden Seelen-Stripper ist Kozelek ein Gigant des Storytelling, dessen Lyrik sich zu derart berauschender Prosa türmt, dass es eine schamlose Untertreibung wäre, sie als stream of consciousness zu bezeichnen.
Bester Song: „Pray For Newtown“
9. Metronomy – ‚Love Letters‘
Der hoppelnde Orgelsong ‚The Look‘ aus dem Jahr 2011, bislang über 13 Millionen mal geklickt, klebt an Metronomy wie das zuckrige Subgenre Indietronic. Bandmusik zum Tanzen. Das verheißt Vergänglichkeit, sobald die Hitmaschine ins Stottern gerät. Dabei ist das britische Quintett, seit 2009 mit Schlagzeug-Frau, beileibe kein One-Hit-Wonder. Auf ihrem vierten Studioalbum gehen sie den analogen Weg. Weniger beschwipst. Eher Hotelbar als New-Wave-Disco. Der Titelsong orientiert sich am weißen Funky-Pop der Spätsechziger. Die 1969er-Schwelgerei ‚The Age of Aquarius‘ von 5th Dimensions liegt näher als jeder moderne Elektro-Track. Und ‚The Most Immaculate Haircut‘ hat den tollsten Text.
Bester Song: ‚I Am Aquarius‘
8.Sleaford Mods – ‚Divide And Exist‘
Klassenkampf is back! Hingerotzte
Zustandsbeschreibungen, Skizzen einer gleichgültigen Gesellschaft, die Blödsinn posted statt zu revoltieren: ‚All you zombies, tweet tweet tweet‘. Die Roughness der Sleaford Mods kennt keine ausbalancierten Urteile. ‚The smell of piss is so strong, it smells like decent bacon‘ – so beginnt ‚Tied Up In Nottz‘, der Wut-Rap über Nottingham, zu dem ein Brummelbass und ein treibend stumpfes Schlagzeug den Beat vorgeben, über den Jason Williamson seine Beschwerden nölt. Ab und zu ein kleines Georgel und ein paar gezupfte Gitarrenakkorde. Seit Mark E. Smith und The Fall hat das niemand mehr so lässig hinbekommen. England brennt nicht, aber es riecht komisch.
Bester Song: ‚Tied Up In Nottz‘
7. Tom Petty – ‚Hypnotic Eye‘
Ein präzises Bass/Gitarre-Scheppern, quäkender Gesang, ein bisschen wie durch ein Megaphon gepresst, ein paar Orgeltupfer, dann öffnet sich eine Melodie, die Stimme wird klar, die Heartbreakers lassen Harmonien aufblühen und kassieren sie mit einem beherzten Riff wieder ein. ‚American Dream Plan B‘ ist der vielleicht zwingendste amerikanische Rocksong des Jahres. Und dass Tom Petty nach den Wirrungen und Wendemanövern der vergangen 15 Jahre nun zu seinen Wurzeln zurückkehrt eine Überraschung. Wie er sich mit den Heartbreakers schnörkellos durch ‚Fault Lines‘ swingt, wie lässig die Harmonien perlen, die Gitarre sägt und Petty Rückschau hält – es erinnert an die Glanzzeiten der Band zu Ende der 70er-Jahre. SZ
Bester Song: ‚American Dream Plan B‘
6. Tweedy – ‚Sukierae‘
Neben seiner Hauptbeschäftigung mit Wilco fand Jeff Tweedy stets Zeit, um Seitenpfaden zu folgen: Mit Billy Bragg schrieb er Songs für nachgelassene Texte von Woody Guthrie, mit The MInus 5 widmete er sich vergleichsweise einfacher Rockmusik. Mit Sohn Spencer am Schlagzeug nahm Tweedy einen Schwung von Stücken auf, die nicht vollkommen realisiert, skizzenhaft und experimentell wirken – was kein Nachteil ist: Offenbar fanden die Songs den direkten Weg vom Diktafon oder Notizblatt ins Studio, Sohn Spencer trommelt etwas holprig, weitere Musiker wurden vor allem für Chorgesang eingesetzt. ‚Sukierae‘ ist ein Album voll leerer Stellen und überraschender Brüche: der unverstellte Tweedy.
Bester Song: ‚Low Key‘
5. Spoon – ‚They Want My Soul‘
Die immer schon erstaunliche Rockband aus Texas hat ihr eingängigstes Album aufgenommen – und immerhin Platz zwei der amerikanischen Charts erreicht. Besonders die von Dave Fridmann produzierten Stücke halten raffiniert die Balance zwischen Pop-Melodik und Rock-Rabulismus; ‚Outlier‘ schrieb Sänger Britt Daniels mit Brian Eno. Die früher manchmal vertrackten Songs sind einem konzisen Band-Klang gewichen, der Keyboards und Effekte integriert. ‚Rent I Pay‘, ‚Rainy Taxi‘ und ‚Do You‘ haben dennoch eine knochentrockene Dringlichkeit und werden von Daniels zeternd-sehnsuchtsvoll und höhnisch gesungen wie Stücke von Nirvana – allerdings ohne ein Jota Larmoyanz.
Bester Song: ‚Rainy Taxi‘
4. Scott Walker – ‚Soused‘
So schnell hat Scott Walker seit den mittleren Siebzigern kein Album mehr nachgelegt. Im Vergleich zum letzten, noch in Gehörgängen und Hirnwindungen nachhallenden Großwerk ‚Bish Bosch‘ von 2012 wirkt ‚Soused‘, die Kooperation mit den Drone-Metallern Sunn O))), nun geradezu zugänglich. Vermutlich, weil Walker sich seine Hörer, also uns, mittlerweile erzogen hat, wir mit seinem Terrortenor und seinen hörspielartigen Arrangements und Setzungen vertraut sind, sicher auch, weil ‚Soused‘ kohärenter klingt, dort, wo sich früher schwarze Löcher der Stille auftaten, nun die mächtigen Gitarren seiner Mitspieler tönen – ’sometimes the silence can be like thunder‘, wusste schon Bob Dylan.
Bester Song: ‚Fetish‘
3. Roddy Frame – ‚Sven Dials‘
Der ewige 19-Jährige, der die Welt 1983 mit Blue-Eyed-
Soul-Legenden wie ‚Walk Out To Winter‘ beglückte, geht noch einmal in die Vol-
len. Ein Comeback in der Mitte des Lebens, das die filigranen Höhenflüge von einst fortsetzt. Der Geist von Aztec Camera schwebt über ‚Postcard‘ oder ‚Fourty Days of Rain‘. Und die herbe Romantik der Highlands wird wieder mit Motiven der amerikanischen Rock-/Folk-Musik verwoben. Frame gelingt es dabei, aus dem eigenen Ouevre zu schöpfen, ohne zum Rückspiegelfahrer zu werden. Ein Update der klassischen Soundschule Schottlands, die sich seit den Neunzigern verstärkt in die Elektronik verlagert hat. Frame lässt seine Gitarre sprechen – und landet damit mühelos in der Jetztzeit.
Bester Song: ‚Postcard‘
2. Ben Watt – ‚Hendra‘
Ein einziges Soloalbum hatte der Everything-But-The-Girl-Mann 1983 veröfentlicht. Vielleicht braucht es ja ein halbes Leben, um eine Platte wie ‚Hendra‘ zu machen. Um so tief in sich hineinzuhorchen und zu solcher Ehrlichkeit zu gelangen. Um jede Form von Eitelkeit und Prätention hinter sich zu lassen. Mit Bernard Butler an der Gitarre verwandelt Watt Alltagsbetrachtungen und Liebeslyrik in mal bitter-melancholischen, mal glühenden Folk-Pop. Wie großartig, klug und mitunter schmerzlich diese Lieder sind, begreift man mit jedem Hören mehr. Aber sind es nicht gerade die schmerzlichen Einsichten, die man später nicht missen möchte? Who am I foolin‘ when I say I have no regrets?
Bester Song: ‚Forget‘
1. John Southworth – ‚Niagara‘
Er sagt, dass ihm das Konzept erst einfiel, als die Stücke schon geschrieben waren: ein Doppel-Album über die Niagarafälle – eine CD für die kanadische, eine für die amerikanische Seite. Zwei Songs wenigstens hatte John Southworth indes womöglich nicht geschrieben, bevor ihn die Wasserfälle fluteten: ‚Niagara Falls Is Not Niagara Falls‘ auf kanadischem und ‚She Is My Niagara Falls‘ auf amerikanischen Terrain. Traue keinem Dichter! Die Dichotomie ist so sinfällig, dass es nur ein Krampf werden konnte – aber ‚Niagara‘ wurde ein unwahrscheinliches Meisterwerk ohne Ansage, ohne Anzeichen, ohne Vorschusslorbeeren und prominenten Zuspruch.
Die früheren Alben von John Southworth sind gut, aber sie sind nicht außerordentlich. Zwar wurden sie vom ‚Canada Council For The Arts‘ gefördert, doch in Deutschland nicht vertrieben, was womöglich auch damit zu tun hat, dass sie ‚Yosemite‘, ‚Banff Springs Transylvania‘, ‚Sedona Arizona‘ und ‚Mars Pennsylvania‘ heißen- vermeintlich Musik zur amerikanischen Topografie. Man hört Southworths Gesang, der zwischen Kopfstimme und wohltönendem Bariton changiert, man hört ordentlich gesetzte Songs, die sich nicht entscheiden können zwischen Americana, Kammer- und Rockmusik, man hört Begabung. Noch ‚Mama Tevatron‘ (2009 ) ist eine Übung im Suchen, aufgenommen in Trio-Besetzung, Southworth an den Keyboards – die Gitarre hatte bei ihm nie nennenswerte Bedeutung….
Aber auf ‚Human Cry‘ (2012) passiert etwas Merkwürdiges: Nach vielen hübschen Songs kommt ‚So Glad It‘s Finally Spring‘, und plötzlich öffnet sich ein Fenster in die Vergangenheit, zum Vaudeville, zum Musical, zur amerikanischen Unterhaltungsmusik der 20er- und 30er-Jahre, die höchste Kunst ist. Auch das nächste Lied, ‚You Look So Good This Evening‘, hat diesen nostalgischen, erhebenden Ton, und ‚I‘m A Bell‘, das die Platte beschließt, ist ein gespenstisches, silbriges, sehnsüchtiges, schlafwandlerisches Liebeslied.
‚Niagara‘ nun ist voll solcher bittersüßen Balladen und Nachtgesänge: ‚I need someone who‘ll take shorthand rapidly/ For poetry is made at night‘, singt Southworth. In der Literatur würde man ihn einen ‚Erotiker‘ nennen. In seinen Songs treten verrückte Frauen auf und anmutige Engelsmädchen, natürlich kommt der ‚honeymoon with Marilyn Monroe‘ vor, Frauen verschwinden, Schmetterlinge werfen Schatten, Bäume werden umarmt. Auf Pressefotos liegt der Minnesänger angezogen auf einem Bett, daneben schläft eine Frau unter einer Decke.
Diese Lieder! Zwar heißt ein Song ‚Folk Art Cathedral‘, aber das Pastorale ist den Texten eingeschrieben, nicht der Musik. Man muss tatsächlich bis zu den schwärmerischen Songs von George Harrison, den kunstfertig gedrechselten Arien von Harry Nilsson und den feingliedrigen Kompositionen von Paul Simon zurückgehen, um solche Schönheit und Raffinesse zu finden. Das Krachlederne und Polternd- Nostalgietrunkene so vieler Neo-Folk-Adepten fehlt bei Southworth, der Piano, Wurlitzer-Orgel, Fender Rhodes und Vibrafon nicht als Zierrat einsetzt, sondern als sein Instrumentarium. Seine Band, The South Seas, wurde bei ‚Niagara‘ manchmal um einige Bläser erweitert. Die Songs gleiten dahin, sie ziehen in den Bann eines sensualistischen Gemüts: ‚Two beautiful somnambulists/ In The early morning autumn wind.‘
Und am Ende singt der Dichter: Sie ist es. Sie ist meine Niagarafälle.
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