Depeche Mode live in Berlin – Gott stehe ihnen bei
Wie ein Indianer tanzt er um ein imaginäres Lagerfeuer: Dave Gahan und Depeche Mode inszenieren auch beim Konzert in Berlin ihre spirituelle Sinnsuche. Wichtiger ist: Die alten Hits sind auf den Punkt.
Da verlässt er seinen Platz hinter dem Keyboard und steht auf einmal in der Mitte der großen Bühne. Untersetzt, die blonden Locken toupiert, verlaufene Schminke um die Augen, wie ein trauriger Clown: Martin Gore, 51, Komponist von Depeche Mode. Für zwei Songs hat Gore seinen Auftritt als Sänger und kommt nach vorne. Spielt Gitarre und singt seine eigenen Lieder; die Lieder, die der Bariton und Blickfang Dave Gahan normalerweise so raushaut, als wären es Machtdemonstrationen, und mit denen er die Arme von Zehntausenden dirigiert hätte: „Higher Love“. Für Martin Gores Gesang aber werden die Songs dünner arrangiert, oft begleitet ihn nur ein Klavier. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie er die Melodien allein in seinem Studio komponiert haben muss.
Gores Soloauftritte umfassen nur drei von 23 Stücken, dennoch sind sie mittlerweile die Höhepunkte jener Depeche-Mode-Massenveranstaltungen, für die in Deutschland Fußballstadien ausverkauft werden. Denn der schüchtern drein blickende Songwriter bringt Spontanität und Menschsein ins Spiel. Weil es so stark regnet an diesem Abend in Berlin, singt Gore auch noch den bis zu diesem Jahr nie, seitdem selten live aufgeführten Song „But Not Tonight“ aus dem Jahr 1986 gleich hinterher: „Oh God, It’s raining, but I’m not complaining …“. Tausende Regenmäntelarme schießen in die Höhe und bestätigen das. Diese insgesamt zehn Minuten zementieren Gores Status als den Mann, der Depeche Mode ist.
Wenn Frontmann Gahan die Regie übernimmt, gehen die Auftritte in eine andere Richtung. Gahan dekliniert das Vokabular des Stadionrocks, die Kollegen Jon Bongiovi und Mick Jagger wissen Bescheid. Hinternwackeln und Augenaufschlag („And You Look Good“ bei „A Question Of Time“) oder das Schaben am Mikrofonständer bei „I Feel You“ (Penisschaft-Alarm, oha), bei jedem Gig an stets denselben Stellen natürlich.
Die Auftritte der Band ähneln sich bei jeder Tour seit der „ Exciter“-Ära von 2001. Damals hatten Gahan, Gore und das dritte Bandmitglied, Andrew Fletcher, ihre Unstimmigkeiten fürs Erste beigelegt. Man einigte sich auch auf zwei weitere Live-Musiker. Einen Schlagzeuger, was der elektronischen Musik ihren Reiz nahm, aber für den Rockfan Dave Gahan für die Bühne ein wichtiger lokaler Bezugspunkt wurde, vor allem beim Tanzen; sowie ein weiterer Keyboarder, was wiederum für Fletcher ein wichtiger Bezugspunkt wurde. Gilt „Fletch“ doch als berühmtester Ein-Hand-Tastenspieler der Welt; einer, über den Fans sich gerne amüsiert fragen, ob seine Töne selbst dann noch aus dem Synthesizer erschallen könnten, wenn er beide Hände hebt und zum Mitklatschen animiert.
Die Stadien wurden für Depeche Mode ja immer größer, und schon 1993 war der Backkatalog so groß, dass die von der Band einst ironisch für ihre eigenen Stücke proklamierte „Music for the Masses“ erfolgreich umgesetzt werden konnte. Folgende fünf monolithische Songs werden seitdem in ein 20 bis 23-Song-starkes Set integriert und meist in dieser Reihenfolge abgeliefert: „Walking In My Shoes“ – „I Feel You“ – Enjoy The Silence“ – „ Personal Jesus“ und „ Never Let Me Down Again“. Eröffnet werden die Konzerte in der Regel mit zwei bis drei aktuellen Liedern, aktuell aus „Delta Machine“. Diese Songs – „Welcome To My World“ und „Angel“ – bewerben die neue Platte, man darf der Band auch glauben, dass sie die neuen Stücke mag. Aber sie werden nach der „Delta Machine“-Tour auch nie wieder gespielt werden, weil sie einfach nicht gut genug sind. In hitzigen Forendiskussionen einigten Fans sich schnell darauf, dass die „Delta Machine“-Lieder nicht langweilig seien, sondern eben eine „Herausforderung der Hörgewohnheiten“ und Depeche Mode daher die „letzte große Indie-Band“. Blues (der bei Depeche Mode immer etwas aufgesetzt wirkt), Minimal (den eine andere experimentelle Rockband, Radiohead, besser hinkriegt) und Lieder ohne Mitsing-Refrains (die Depeche Mode leider immer besser beherrschen) sind eben nicht jedermanns Sache.
Wer „I’ll penetrate your soul“ singt oder „I’ll bleed into your dreams“ ist von Kitsch, Pathos oder den Songtext-Fantasien älterer Männer, in denen Liebe oft mit Herrschaft zu tun hat, nicht wirklich weit entfernt. Gahan tanzt dabei im Kreis, wie um ein imaginäres Lagerfeuer. Der alte Indianer! Singt „I Was Lost, I Was Found“ und hebt die Arme in den Himmel, so weit er kann – hört ihn dort oben jemand, über den Wolken? Immerhin darf Dave Gahan sich zu gute halten, dass er als einst klinisch Toter – er musste nach einer Drogenüberdosis 1996 reanimiert werden – von Dingen singen möchte, die nicht jeder Zuhörer sofort nachvollziehen kann. Der 51-Jährige ist halt der Wiederauferstandene, der für sich klären will, wie er seine zweite Chance nutzen soll. Und der 2013 endlich proklamiert: „I found the peace i’ve been searching for.“ Für „Angel“ hat Gahan, der in den Neunzigern für seine Erleuchtungslieder langhaarig und mit Büßerhemd auftrat, seine Gewänder für ein schwarzes Sakko von der Stange eingetauscht. Es soll ihn erfahrener machen.
So sind es sind diese vielleicht etwas zu dramatischen, aber auch irgendwie berührenden Momente, die kurz vergessen lassen, dass Depeche Mode heutzutage nicht mehr nach Rock and Roll riechen, sondern wie ein Franchise wirken. Die Marke Depeche Mode wird mittlerweile auch mit einem Uhrenhersteller, einem bestimmten Auto und bei fast jeder ihrer Werbe-Anzeigen mit einem Mobilfunkriesen in Verbindung gebracht. Man hat das Gefühl, dass viele Jobs und Verantwortlichkeiten an dieser Gruppe hängen. Und das geht auf Kosten des für Fans so wichtigen Gefühls, ihre Lieblinge seien unabhängig von der Industrie. Alle vier Jahre aber gibt’s das Album und die Tour, pünktlich ein Jahr vor der Fußball-WM. Diese Delta-Maschine hat eine ganz bestimmte Taktung. Vielleicht wird jetzt schon nachgefragt, ob das Olympiastadion im Juni 2017 Freitermine hat.
Zurück zu den Songs: Stadionkonzerte sind für jeden Musiker eine undankbare Aufgabe. Je größer die Arenen, umso mehr Zuschauer sind unzufrieden. Sicht, Akustik, die Probleme sind bekannt. Und dann zählen auch noch sieben der 23 Live-Songs zu den sperrigen neuen Stücken. Manche, wie „Goodbye“, scheinen fast nur aus einem einzigen, gehämmerten Blues-Riff zu bestehen. Es ist lustig zu sehen, dass im Olympiastadion so etwas schwer Verdauliches, Konzentration erforderndes funktioniert. Depeche Mode gönnen sich den Spaß auch, sie wissen ja, dass diese Lieder keine zehntausend Menschen mitsingen würden, hätte sie jemand Anderes geschrieben.
Und es scheint, als würden die Dinge gar nicht mehr schwer wiegen. Das traurige „Precious“ etwa schrieb Martin Gore einst für sein eigenes Kind, das später zum Scheidungskind wurde. „ My God, what have we done to you?“, singt Gahan darin. Der Einspieler auf den Stadionleinwänden zeigt dabei traurig drein blickende … Hunde. Anscheinend läuft es in Gores Patchwork-Familie wieder einigermaßen, die Awareness hat sich verschoben, hin zu anderen Lebewesen.
Nur dürfen Depeche Mode nicht den Fehler begehen, bewusst Songs fürs Stadion komponieren zu wollen. „Wir freuen uns schon darauf, das in einer Arena zu spielen“, sagten Gore und Gahan mal über die neue Single „Soothe My Soul“. Das Lied ist dann natürlich Schunkel-Rock geworden, versehen mit einem Mallorca-Chorus. Bei der Tour 2017 sicher nicht mehr im Programm. Ihr heute größter Stadion-Hit dagegen, „Never Let Me Down Again“, war 1987 in ihrer Heimat noch nicht mal in den Top 20. Es ist das Lied, das in die Livegeschichte eingegangen ist, weil ab einer bestimmten Stelle alle im Publikum die Arme wie Regenwischer schwenken. Hunderttausende Arme, synchron gebogen im Stadion, das sieht aus wie Halme im Wind, eine Graswiese im Herbststurm – doch, ist schon toll.